Stadt fair teilen - was kann Planung beitragen?
Unsere Städte sind über Jahrhunderte gewachsen, darin spiegelt sich auch die Geschichte der städtischen Gesellschaft, wer hatte das Sagen, für wen waren welche Berufe zugänglich. Stadt ist ein...
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„Diese Autos! Sie drängten sich hastig an der Straßenbahn vorbei; hupten, quiekten, streckten rote Zeiger links und rechts heraus, bogen um die Ecke; andere Autos schoben sich nach. So ein Krach! Und die vielen Menschen auf den Fußsteigen! Und von allen Seiten Straßenbahnen, Fuhrwerke, zweistöckige Autobusse! Zeitungsverkäufer an allen Ecken. Wunderbare Schaufenster mit Blumen, Früchten, Büchern, goldenen Uhren, Kleidern und seidener Wäsche. Und hohe, hohe Häuser.“[1]
Das weltstädtisch-chaotische Berlin der 1920er Jahre, das Erich Kästner in seinem berühmten Kinderroman „Emil und die Detektive“ beschreibt, würden viele von uns kaum als kindgerechte Lebenswelt bezeichnen. Dennoch gelingt es den Protagonisten des Romans, einer Gruppe von Kindern und Jugendlichen, sich genau solche Stadträume zu eigen zu machen: Sie finden und erfinden ihre eigenen Wege, Orte und Rituale; ihre Taktiken des Raumgebrauchs sind denen der Erwachsenen mitunter sogar überlegen. Gefragt hat man sie allerdings nie, ob ihnen diese Stadt gefällt oder wie ein Stadtraum nach ihren Bedürfnissen auszusehen habe.
Vierzig Jahre später in einer fiktiven Arbeitersiedlung irgendwo im Ruhrgebiet, mit den ersten Arbeitslosen des Strukturwandels und latenter bis offener Ausländerfeindlichkeit, umgeben von einer viel befahrenen Bundesstraße und einem stillgelegten Ziegeleigelände: Auch Hannes, Maria und Kurt, die Hauptfiguren von Max von der Grüns „Die Vorstadtkrokodile“, schaffen es, dieser auf den ersten Blick trostlos anmutenden Szenerie ein großes Maß an Lebensqualität abzugewinnen. So sperren sie bei Bedarf kurzerhand die Bundesstraße, damit der querschnittsgelähmte Kurt mit seinem Rollstuhl einigermaßen gefahrlos zum neuen Hauptquartier der Krokodile jenseits der großen Straße gelangen kann, eine Lösung, zu der die offizielle Verkehrsplanung nie imstande wäre. Die leerstehende Ziegelei wird zu ihrem wichtigsten Ort – ein Ort, der ursprünglich so gar nicht kindgerecht, sondern für einen völlig anderen Zweck geplant worden war.
Ob Großstadt, Stadtrandsiedlung oder Dorf: Die zwei Romane erzählen von Lebenswelten, die nicht nach spezifischen Anforderungen von Kindern und Jugendlichen geplant wurden – mitunter sogar solche Merkmale aufweisen, wie wir sie heute für die Kinder- und Jugendfeindlichkeit unserer Städte verantwortlich machen –, die es jedoch offensichtlich zulassen, dass sich Kinder und Jugendliche die sehr unterschiedlichen Umgebungen durch aktives und selbstbestimmtes Tun zu eigen machen. Schon weil ihnen das so gut gelingt, haben wir den Eindruck, dass diese Lebenswelten kind- und jugendgerechter seien als viele unserer heutigen Städte.
Wo aber liegen die Unterschiede zur heutigen Stadt, in der es mehr Autos als Kinder gibt, die sich mit dem Leitbild der autogerechten Stadt massiv verändert hat? Die Antworten liegen auf der Hand: Emil und die Detektive und die Vorstadtkrokodile agieren in räumlichen Umgebungen, die häufig nicht eintönig oder eindimensional, sondern anregend und vielfältig sind; Orte und Räume, deren Gebrauch weit weniger reglementiert oder überwacht ist, als wir es aus den hochspezialisierten Freiräumen unserer Städte kennen. Vor allem aber: Es sind Stadträume, in denen Kinder und Jugendliche immer präsent sind. Wer Kinder hat oder mit Kindern und Jugendlichen zu tun hat weiß, dass bereits die einfache Anwesenheit von Kindern und Jugendlichen Räume verändert, dass sie mit ihrem schlichten „Da-sein“ auch die Art und Weise, wie Erwachsene diese Räume gebrauchen, verändern. Das, was uns Kästner und von der Grün in ihren Büchern schildern, sind keine Stadträume für Kinder und Jugendliche, sondern Stadträume für – alle.
„Die Stadt für alle“ ist in der Theorie des Städtebaus eine Selbstverständlichkeit, auch in den meisten Stadtentwicklungsprogrammen; die Wirklichkeit sieht häufig anders aus. Auch als planende Disziplin von Architekten und Stadtplaner haben wir dazu keinen unerheblichen Beitrag geleistet, in dem wir Leitbilder in der Stadtentwicklung wie die autogerechte Stadt verfolgt haben, die den öffentlichen Raum stark verändert haben. Die verkehrliche Erreichbarkeit der Innenstädte, ihr Komfort und ihre Erlebnisqualität wurden mit großen Anstrengungen verbessert, vor allem mit Blick auf Menschen, die gar nicht in den Innenstädten wohnen (Konsumenten, Touristen etc.). In solchen Innenstädten tauchen Kinder und Jugendliche häufig nur als Konsumenten auf: Sie finden dort kommerzielle Freizeitangebote und kinder- und jugendspezifische Einzelhandelsgeschäfte vor, das City-Management organisiert auf zentralen Plätzen zielgruppengenaue Events und die großen Shopping Malls bieten betreute Indoor-Spielbereiche, damit die Erwachsenen entspannt einkaufen können.
Mit der Spezialisierung des Stadtraums „Innenstadt“ hat sich auch sein öffentlicher Raum verändert. Straßen und Plätze wurden für die dominierenden Nutzungen (Einzelhandel, Gastronomie, dienstleistungsorientierte Arbeitsstätten) optimiert, das heißt für die Abwicklung der entsprechenden Verkehrsströme ertüchtigt und an die Repräsentations- und Sicherheitsbedürfnisse von Kaufhäusern und Firmensitzen angepasst. Vormals öffentliche Bereiche wurden privatisiert oder werden mittlerweile von privaten Sicherheitsunternehmen überwacht, während private Verkehrsflächen in Einkaufszentren und Urban Entertainment Centern häufig als öffentliche „Piazza“ oder „Arkaden“ inszeniert wurden. Diese Mischformen öffentlich-privater Räume wären weit weniger brisant, wenn es eine Kultur der freien Zugänglichkeit gäbe. Dass es sie in diesen hybriden innerstädtischen Räumen nicht gibt, kann man nicht alleine den Betreibern und Eigentümern anlasten, denn wer private Räume frei zugänglich (also: öffentlich) machen soll, muss zumindest auf einen achtsamen Umgang mit ihnen vertrauen können.
Die Klage über kinder- und jugendfeindliche öffentliche Räume fokussiert sehr stark auf Straßen, Wege und Plätze, weil sie häufig einseitig für die Belange des motorisierten Verkehrs ausgelegt oder derart stark von Verkehrsfunktionen dominiert sind, dass ein anderer Gebrauch dieser Räume gar nicht möglich ist. Wie in öffentlichen Straßenräumen existiert auch in Quartier- und Stadtparks die Tendenz zu funktionaler Spezialisierung – und dementsprechend zur Reglementierung des Gebrauchs (mit speziellen Kinder-, Hunde- und Seniorenwiesen). Stadtparks sind zudem häufig stark ästhetisiert und entsprechend durchgestaltet, so dass ihnen jene „Reibung“, wie sie Brachen, Ruinen und urbane Wildnisse auszeichnet und wie sie gerade Jugendliche zu mögen scheinen, weitgehend fehlt. Heranwachsende sind ihrerseits in der Lage, neue Perspektiven auf öffentliche Räume, vor allem auf ihren Gebrauchswert, zu eröffnen, Jugendliche gelten seit langem als „Pioniere der Wiederaneignung des öffentlichen Raumes“ (Fester et al. 1982). Wie anders solche Perspektiven aussehen könnten, lässt sich schon mit Blick auf die sehr verschiedenen Wahrnehmungen und Nutzungsmuster von Alltagsräumen durch Kinder und Jugendliche erahnen.
Die Diskussion um die Veränderung der Lebenswelten in unseren Städten kreist seit einigen Jahren um solche Begriffe wie „Verhäuslichung“, „Medialisierung“ und „Verinselung“: Je unattraktiver und gefährlicher die städtischen Außenräume für Kinder und Jugendliche sind oder so wahrgenommen werden, desto stärker konzentrieren sich deren Aktivitäten auf Binnenräume – wie etwa das eigene Zimmer, das mit Fernsehen und Computer ausgestattet ein Agieren in virtuellen Welten aufregender machen kann als das Durchstreifen monotoner Stadträume. Die körperlichen und sozialen Erfahrungen, die Kinder und Jugendliche in „Sim Cities“ oder im „Second Life“ machen, nehmen in ihrer Sozialisation einen immer größeren Raum ein.
Darüber hinaus finden die Aktivitäten von Kindern und Jugendlichen bevorzugt in gut organisierten, geschützten „Inseln“ (Schule, Spielplatz, Freizeittreff, Musik- oder Sportverein) statt, die über das Stadtgebiet verstreut häufig nur mit Hilfe von Erwachsenen erreicht werden. Die Areale zwischen diesen „Inseln“, das eigentliche Stadtgebiet, verkümmern zu einem Raum, den es möglichst schnell und sicher zu überwinden gilt. Aber bereits diese gängige Form der Systematisierung, die auf der Vorstellung beruht, dass Kinder mit zunehmendem Alter ihre Aktionsräume kontinuierlich (und gewissermaßen konzentrisch) erweitern, ist beispielsweise etwas, das zu hinterfragen ist, wenn wir den Befund von der „Verinselung“ und räumlichen Fragmentierung kindlicher Lebenswelten ernst nehmen wollen. Das in der räumlichen Planung gebräuchliche „Zwiebelmodell“ – die verschiedenen Schichten der Zwiebel symbolisieren verschiedene Aktionsradien und Grade von Öffentlichkeit – wird deshalb auf lange Sicht einen Bedeutungswandel erfahren: Die Zwiebel wird dann kein raumzeitliches Kontinuum mehr darstellen können (von der Wohnung über den Stadtteil bis zur Region), sondern lediglich verschiedene Grade von Erreichbarkeit und unterschiedliche Intensitäten von Schutz bzw. Sicherheit innerhalb eines diskontinuierlichen Stadtraums versinnbildlichen.
Der öffentliche Raum lässt sich im Hinblick auf die Nutzung durch die Jugendlichen in verschiedene Typen differenzieren, die für die Planung relevant sind:
Diese unterschiedlichen Typen (vgl. Nissen 1998:170) erfordern unterschiedliche planerische Herangehensweisen, einige Typen entziehen sich auch unserem Einflussbereich bzw. unsere Gestaltungshoheit ist eingeschränkt, wie z.B. bei Shoppingcenter und Brachen.
Der Blick auf den Raumtypus „Öffentliche Freiräume“ zeigt, dass gestalterische Möglichkeiten der In-Wert-Setzung dieser Räume bestehen, es aber keine wirklichen Rezepte geben kann.
In innerstädtischen öffentlichen Räumen bieten sich gestalterische Potenziale, um den Gebrauchswert der Räume und die Aufenthaltsqualität für Kinder und Jugendliche zu erhöhen.
Gerade für Kinder und Jugendliche sind große grüne Freiräume wichtige Orte, aber sie betrachten diese mit einem anderen Blick. Diese Orte müssen sich auch als Treffpunkte eignen; die soziale Begegnung steht im Vordergrund.
Stadtentwicklung und Stadtplanung sind eine Querschnittsaufgabe, in der verschiedenste Fachdisziplinen und Verantwortlichkeiten aufeinander treffen. Zugleich ist diese Aufgabe in höchstem Maße abhängig von politischen Entscheidungen und Prioritätensetzung. Derzeit lassen sich verschiedene strategische Ansätze erkennen, um die Belange von Kindern und Jugendlichen stärker in die Stadtplanung zu integrieren:
Spielflächenbedarfs- und Spielflächenentwicklungsplan
Viele Städte und Gemeinden verwenden dieses Planungsinstrument, das sich auf die für Kinder vorgesehenen öffentlichen Spielflächen bezieht, als eigenständigen Fachplan.
Kinderfreundlichkeitsprüfung
Einige Kommunen haben – analog zur Umweltverträglichkeitsprüfung – eine sog. Kinderfreundlichkeitsprüfung eingeführt. Bei diesen Prüfverfahren werden z.B. städtebauliche und soziale Prüfkriterien für familien- und kinderfreundliches Wohnen und Bauen als Checkliste zugrunde gelegt.
Spielleitplanung als Planungsinstrument
Das Bundesland Rheinland-Pfalz hat das Instrument der „Spielleitplanung“ entwickelt, das die Belange von Kindern und Jugendlichen erstmalig auf der gesamträumlichen Ebene betrachtet. Die Spielleitplanung ist ein Planungsinstrument, das als informelle Fachplanung das Leitbild der kinder- und familienfreundlichen Stadtplanung auf der operationalen Ebene umsetzen soll.
Beteiligung von Kindern in der Stadtplanung
Stadtplanung wird in der Regel von Erwachsenen gemacht: Erwachsene planen für die verschiedenen Gruppen, die jeweils eigene Bedürfnisse und Anforderungen an gebaute Räume und Freiräume haben: Kinder, Jugendliche oder ältere Menschen. Aufgabe der Planer und Architekten ist die Integration dieser Ansprüche und vor allem die Einbeziehung derer, die sich nicht als Bauherren oder Investoren ohnehin sehr gut einbringen können – und dazu gehören vor allem Kinder und Jugendliche. Dazu muss man aber auch die Wünsche und Anforderungen der jüngsten Stadtbewohner kennen, und sie vor allem zu Wort kommen lassen – denn wer wäre ein besserer Experte dafür als die Kinder und Jugendlichen selbst?
Ein entscheidender Unterschied im Gegensatz zu anderen Partizipationsprozessen ist, dass im Planen und Bauen die Kinder und Jugendlichen zwar selbst die Nutzer sind, aber nicht die Auftraggeber, die Bauherren, die Entscheidungen beispielsweise zur Konzeption einer Schule oder eines Kindergartens treffen. Richard Schröder schätzt einen solchen Prozess der Beteiligung ganz treffend ein: Es kann nicht darum gehen, „Kindern das Kommando zu geben“, sondern „Partizipation heißt, Entscheidungen, die das eigene Leben und das Leben der Gemeinschaft betreffen, zu teilen und gemeinsam Lösungen für Probleme zu finden. Kinder sind dabei nicht kreativer, demokratischer oder offener als Erwachsene, sie sind nur anders und bringen aus diesem Grunde andere, neue Aspekte und Perspektiven in die Entscheidungsprozesse hinein.“ (Schröder, 1996) In der Schlussfolgerung bedeutet dies: Binden wir Kinder und Jugendliche in planerische Überlegungen ein, dann werden Entscheidungen vor einem breiteren Erfahrungshintergrund reflektiert. Mit der Einbeziehung in einen Planungsprozess geben wir den Kindern und Jugendlichen zugleich mehr Verantwortung. Ihren Stellenwert können Partizipationsprozesse dann einlösen, wenn sie die Beteiligten ernst nehmen, also keine Alibi-Planspiele mit ihnen veranstalten, und ein Grundverständnis von Qualität gegeben ist.
Um diese Erkenntnisse zur Planung und Gestaltung öffentlicher Räume in der Planung einlösen zu können, müssen bestimmte Voraussetzungen gegeben sein: Zum einen sollten Kinder und Jugendliche lernen oder gelernt haben, die eigenen Wünsche, Interessen und Perspektiven zu artikulieren und aktiv in Planungsprozesse einzubringen. Zum anderen braucht es ein Gespür für die Prinzipien und Wirkungszusammenhänge der gebauten Umwelt, ein Verständnis für die Gestalt und die Gestaltbarkeit von Stadt und Landschaft, einen Sinn für Formen, Proportionen und die Schönheit gebauter Räume. Beides fällt in den Bereich der baukulturellen Bildung von Kindern und Jugendlichen – ein Aufgabenfeld, das in jüngster Zeit große Beachtung erfährt.
Möglicherweise ist das der eigentliche Kern aller Debatten um eine kinder- oder generationengerechte Stadt: Wir kommen einer „Stadt für alle“, in der die sich immer weiter ausdifferenzierenden Bedürfnisse und Interessen aller bestmöglich berücksichtigt werden, nur entscheidend näher, wenn auch eine konstruktive und qualitätsvolle Stadtgestaltung „mit allen“ möglich ist – und auch Stadtplaner nicht „für alle“ planen müssen, sondern „mit allen“ gestalten können. Welche vielleicht sogar ganz neuartigen Stadträume dabei entstehen können, wissen wir jetzt noch nicht; aber die Aussicht auf Neues kann letztlich sehr viel inspirierender sein, als sich immer wieder in die Stadträume von Emil Tischbein oder den Vorstadtkrokodilen zurückträumen zu müssen.
Literatur
Literaturliste ist gegebenenfalls anzufordern unter: christa.reicher@rha-planer.eu
Weiteres zur Autorin:
Christa Reicher,*1960
Dipl.-Ing. Architektin und Stadtplanerin, Mitinhaberin des Planungsbüros RHA reicher haase architekten + stadtplaner, Aachen /Dortmund/ Vianden
Universitätsprofessorin und Leiterin des Fachgebietes „Städtebau, Stadtgestaltung + Bauleitplanung“, Fakultät Raumplanung der TU Dortmund.
Seit 2010 Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats des BBSR.
Mitglied verschiedener Gestaltungsbeiräte, u.a. Dortmund und Berlin
Foto: Gestaltung der Innenstadt in Ahaus, Planung RHA reicher haase architekten + stadtplaner, Foto Martin Brockhoff
[1] Aus: Kästner, Erich Emil und die Detektive: Ein Roman für Kinder,
142. Aufl. - Zürich : Atrium-Verlag 1997, S.70.