Stadt fair teilen - was kann Planung beitragen?
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Der Ausbau von Ganztagsschulen erfolgt seit längerem und gewinnt aktuell vor dem Hintergrund der Einführung eines bundesweiten Rechtsanspruchs auf Ganztagsbetreuung von Kindern im Grundschulalter an neuer Brisanz. Die (Weiter-) Entwicklung von Ganztagsgrundschulen ist somit nicht nur pädagogisch sinnvoll, sondern auch rechtlich unumgänglich. Beim Ausbau sollte allerdings auch an die immense Bedeutung der Schulfreiräume gedacht werden, denn diese sind in der Schule die einzigen Orte, an denen Kinder nicht „pädagogisch belagert“ werden und es auch nicht sollten (Krappmann, 1984). In diesen Zeiträumen können Heranwachsende auf Schulhöfen und auch im Schulgebäude frei von schulischem Zwang ihren selbstbestimmten Tätigkeiten nachgehen und dabei informell lernen, indem sie mit anderen Kindern in Kontakt kommen, Geselligkeit pflegen, Beziehungen aufbauen, miteinander leben, voneinander lernen, Regeln des Zusammenlebens ausprobieren und Grenzen erfahren können.
Der Schulhof sowie die Pausen- und Aufenthaltsflächen im Schulgebäude stellen vor dem Hintergrund von gesellschaftlichen Veränderungen und einer zunehmenden Institutionalisierung von Kindheit den größten Sozialraum von Kindern dar. Einen Großteil ihrer täglichen Lebenszeit verbringen Kinder in der Ganztagsschule und in den Pausenräumen. Vielen verantwortlichen Akteur:innen von Ganztagsschulen scheint nicht bewusst zu sein, dass die Dauer des Aufenthalts von Kindern auf Schulhöfen während der Pausen und der Betreuungszeit deutlich zunimmt. Gemessen an den Rhythmisierungsplänen der Schulpreisträger der letzten Jahre beträgt die Dauer der Pausen an Ganztagsgrundschulen im Durchschnitt 500 bis 900 Minuten pro Woche. Das entspricht etwa elf bis 20 (45-minütigen) Unterrichtsstunden. In der Schuleingangsphase kann die Zeit für das informelle Lernen während der Pausen und der Betreuung damit fast genau so viel wie die verordnete Gesamtunterrichtszeit pro Woche betragen. Die wöchentlichen Pausenzeiten in Ganztagsgrundschulen übersteigen damit auch die Bewegungszeiten in den Sportstunden sowie die nicht-formellen (Nachmittags-)Angebote im Ganztag um ein Vielfaches. Hier liegt ein enormes Potenzial für die motorische, soziale-emotionale, kognitive, personale und auch gesundheitliche Entwicklung von Kindern. Um dieses Potential zu nutzen, ist jedoch eine entsprechende Raumgestaltung notwendig.
Die bundesweiten Ergebnisse der Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen zeigen, dass immer noch ein enormer Bedarf an einer quantitativen und qualitativen Gestaltung von Schulhöfen besteht. Während fast alle Ganztagsschulen inzwischen mit einer Mensa ausgestattet sind, fehlen in der Hälfte der Schulen angemessene Schulhöfe für Bewegung, Spiel und Sport sowie für Rückzug und Kommunikation. In der Konsequenz wird ein wichtiges Qualitätskriterium von Ganztagsschulen, nämlich das informelle Lernen in Pausenräumen bzw. die kreative Freizeitgestaltung, an mindestens der Hälfte der Ganztagsschulen in Deutschland nicht erfüllt. Dadurch werden Chancen ungenutzt gelassen, die Entwicklung der Heranwachsenden als auch die (Weiter-)Entwicklung von Ganztagsschulen zu fördern. Um diesem Umstand entgegenzuwirken, muss verstärkt die Bedeutung des Raums als „dritter Pädagoge“ und der Schulhof als bewegungsorientierter und peerfreundlicher Sozialraum betrachtet werden. Aus diesem Grund wird im Folgenden zunächst auf die Bedeutung des Raums als „dritter Pädagoge“ eingegangen und anschließend wird das enorme Potential von bewegungs- und peerfreundlichen Schulhöfen für die Entwicklung von Kindern skizziert. Abschließend erfolgt eine Zusammenfassung.
Die Bedeutung des Raums als „dritter Pädagoge“
Ein Raum besitzt nicht nur eine architektonische Dimension. Ein Raum ist auch kein „Container“, in dem sich der Mensch lediglich für eine gewisse Zeit aufhält und agiert. Im Gegenteil: Menschen tragen durch ihre Handlungen maßgeblich dazu bei, dass Räume entstehen. Jeder Mensch besitzt ein räumliches Vorstellungsvermögen, ebenso hat jede/r von uns eine kulturell tradierte Vorstellung davon, wie sie/er in einem Raum leben möchte bzw. davon, von welch einheitlichem homogenen Raum sie/er umgeben sein möchte. Ein Ort wirkt auf Personen unterschiedlich und ist damit nicht für jeden identisch. Je nachdem, wie Menschen diesen wahrnehmen und handelnd verändern, können an einem bestimmten Ort unterschiedliche Räume entstehen.
Die Handlungen von heranwachsenden an Tischtennisplatten auf Schulhöfen veranschaulichen recht deutlich, wie sich verschiedene Gruppen an diesem Ort, unterschiedliche Räume schaffen.
Im Allgemeinen betrachten wir eine Tischtennisplatte „ausdrücklich“ funktional als Sportraum. In diesem lernen Heranwachsende, „die vorgegebenen räumlichen Strukturen zu entschlüsseln, die Bedeutung von Linien, Abgrenzungen, Feldern und Geräten zu erkennen und sich demgemäß zu verhalten“ (Dietrich, 1992, 16). Entgegen dieser Bedeutung, die ihren Ausdruck in der räumlichen Struktur und den genormten Spielmaterialien findet, spielen Kinder an Tischtennisplatten recht häufig mit ihren Händen und einem großen Ball „Rundlauf“. Dadurch funktionieren sie die Tischtennisplatten zu einem Spielraum um. Vorwiegend männliche Jugendliche passen sich dagegen den räumlichen Strukturen von Tischtennisplatten an und spielen mit Tischtennisschlägern und einem Ball nach genormten Regeln. Dadurch nutzen sie den Ort „Tischtennisplatte“, den räumlich nahegelegten Strukturen entsprechend als Sportraum. Insbesondere weibliche Jugendliche gestalten die Tischtennisplatten gerne zu Stammplätzen des Unterhaltens mit ihren Freundinnen um, wodurch sie sich einen Ruhe- und Kommunikationsraum schaffen.
Das Beispiel dürfte deutlich zeigen, wie unterschiedlich ein und derselbe Ort von verschiedenen Gruppen genutzt und somit zu unterschiedlichen Räumen (um-)gestaltet wird.
Das Interessante hierbei ist, dass gerade die Umdeutungen des normierten Sportraums Tischtennisplatte, z.B. von Kindern zu einem Spielraum, eindeutige Hinweise über die entwicklungsorientierten Raumbedarfe von Heranwachsenden zulassen. Die subjektiven Sinndeutungen von vermeintlich objektiven Raumstrukturen sind, wie beim Beispiel zu sehen, in erster Linie abhängig von Alter und Geschlecht. Menschen gestalten ihr Handeln also im Wechselspiel zwischen ihrer biografischen Entwicklung und der von ihnen vorgefundenen Umwelt. Die Wirkung des viel zitierten Raums als dritten Pädagogen resultiert genau aus diesem Wechselspiel, nämlich den vermeintlich objektiven Strukturen des Raums und deren subjektiven Sinndeutungen durch die Menschen. Folglich ist der Raum als dritter Pädagoge kein einheitliches Konstrukt, sondern offenbart sich abhängig vom jeweiligen alters- und geschlechtsbedingten Standpunkt, also jedem individuell.
Entsprechend dem relationalen Raumverständnis von Löw (2001) sollte auch der Sozialraum nicht nur als ein Container, sondern ebenso vom Menschen und seinen Bedürfnissen hergedacht werden. Dies bedeutet in der Konsequenz, dass Schulhöfe nicht lediglich „möbliert“ werden sollten. Hierüber sollten sich pädagogische Fachkräfte und Architekten bewusst sein, wenn sie Kindern entwicklungsgerechte Schulhöfe bieten wollen. Dann kann das enorme Potential von bewegungs- und peerfreundlichen Schulhöfen für die Entwicklung von Kindern in einem weit höheren Maße ausgeschöpft werden.
Potential von bewegungs- und peerfreundlichen Schulhöfen für die Entwicklung von Kindern
Wird berücksichtigt, dass ein Großteil aller menschlichen Lernprozesse in informellen Situationen stattfinden und zum Erwerb von Schlüsselkompetenzen beitragen, scheint es sowohl für die persönliche Entwicklung von Kindern als auch für die qualitative Weiterentwicklung von Ganztagsgrundschulen eine wichtige Aufgabe zu sein, sich informellen Lernprozessen zu öffnen und sie in den Schulalltag einzubinden. Eine prädestinierte Möglichkeit, das informelle Lernen stärker in das Bewusstsein zu rücken und zu fördern, besteht darin, neben den Freiräumen im Schulgebäude, den Schulhof als einen Ort bewegungsorientierten Sozialraum aufzufassen, indem informelles Lernen erfolgt (vgl. Derecik, 2011, 32).
Als Konsequenz aus diesen Entwicklungen sollte eine Erweiterung des pädagogischen Schulauftrags der Ganztagsgrundschule darin gesehen werden, den Kindern altersangemessene Räume auf dem Schulhof zur Verfügung zu stellen, die mit einer notwendigen Veränderung der sozialen Kontrolle einhergehen und vor allem Möglichkeiten für informelles Lernen bieten. Das impliziert jedoch die Anerkennung des Schulhofs als pädagogisch wirkende Umwelt. Ein zeitgemäßer, pädagogischer Schulhof sollte es ermöglichen, dass Kinder sich bewegen und Freunde treffen können. Diese zwei elementaren Entwicklungsfelder, also die Bedeutung von Bewegung (vgl. Derecik, 2011), sowie die Bedeutung von Peers (vgl. Harring & Peitz, 2021), sind unmittelbar mit Räumen verknüpft.
Aus einer Gesundheitsperspektive lohnt sich auf den Aspekt Bewegung auf Schulhöfen zu schauen. Aktuelle Studien belegen, dass ca. 75% der Kinder bereits im Grundschulalter sich weniger als eine Stunde am Tag bewegen (vgl. Finger et al., 2018). Wenn wir uns nun nochmal die enormen zur Verfügung stehenden Zeiträume auf Schulhöfen (s.o.) für Bewegung anschauen, wird offensichtlich, dass ein bewegungsfreundlich gestalteter Schulhof einen wertvollen Beitrag zur Erfüllung eines täglichen Aktivitätsrahmen von ca. einer Stunde leisten kann, welches laut WHO (2020) zur Unterstützung eines gesunden Lebensstils im Kindesalter beiträgt.
Aus einer aneignungs- und raumtheoretischen Perspektive entwickeln Kinder über Bewegung nicht ausschließlich ihre körperlichen Fähigkeiten weiter, sondern eignen sich auch eine Vielzahl von neuen Bewegungs- und Spielräumen an. Dabei lernen die Kinder in informellen und selbstgesteuerten Aneignungsprozessen die Bedeutungen von Gegenständen und Symbolen im gesellschaftlichen Zusammenhang kennen. Sie entwickeln sich so in der eigentätigen Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt weiter und werden gesellschaftsfähiger. Wenn Kinder ihre motorischen Fähigkeiten erweitern, dann erweitern sie immer auch ihre Handlungsräume. Beidem kommt innerhalb der kindlichen Entwicklung eine entscheidende Rolle zu (vgl. Derecik, 2011).
Neben Bewegung gehören der Aufbau und der Erhalt von Freundschaften mit Gleichaltrigen im Grundschulalter zu den zentralen Entwicklungsaufgaben, wobei Bewegung und Freundschaften in dieser Lebensphase kaum voneinander zu trennen sind. Die Lebenswelten von Kindern zeichnen sich aktuell jedoch v.a. durch den zunehmenden Verlust an informellen Bewegungsräumen mit Gleichaltrigen aus. Die Corona-Pandemie hat diesen Umstand zusätzlich verstärkt, vor allem für Kinder aus benachteiligten Milieus. Die Ganztagsschule kann einem Verlust von informellen Bewegungsräumen entgegenwirken und damit vielfältige und entwicklungsdienliche Interaktionen mit Gleichaltrigen ermöglichen, die positive Auswirkungen auf die persönliche, soziale und sogar gesundheitliche Entwicklung der Kinder sowie auf ihre Schulleistungen haben können. Doch wie sehen entwicklungsgerechte Schulhöfe für Kinder aus, in denen sich Kinder gesund entwickeln, sich wohlfühlen und informell lernen können?
Entwicklungsgerechte Schulhöfe für Kinder
Ausführliche Hinweise zur konkreten Gestaltung von Schulhöfen sind an dieser Stelle nicht möglich (vgl. Derecik, 2015), erste Orientierungspunkte jedoch schon. Die zentralen Raumbedarfe, die Kinder an ihren Schulhof stellen und in denen sie in Auseinandersetzung mit dem Raum und Gleichaltrigen über Bewegung informell lernen können, lassen sich wie folgt differenzieren. Kinder besitzen aufgrund ihres Entwicklungsstandes einen spezifischen Raumbedarf, der v. a. Möglichkeiten für Bewegung, zum freien Spiel, aber auch zu Rückzug und Kommunikation bieten muss. Wenn diese entwicklungsorientierten Raumbedürfnisse von Kindern in der Gestaltung Ihres Schulhofs berücksichtigt werden, dann enthält ein „ideales“ Grundschulgelände in seiner Minimalausstattung folgenden Elemente, die sich in drei Nutzungsgruppen einteilen lassen:
Zusammenfassung
Mit dem bundesweiten Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung von Kindern gerät der Ausbau von Ganztagsschulen erneut in den Fokus der bildungspolitischen und pädagogischen Diskussionen. Hierbei sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass die Schulhöfe für die Kinder einen wichtigen und sicherlich auch den größten Sozialraum darstellen, in dem sie weitgehend selbstbestimmt informell lernen und sich entwickeln können. Für eine sozialraumorientierte Gestaltung von Ganztagsgrundschulen sollten den Kindern bewegungs- und peerfreundliche Schulhöfe für die umfangreichen Pausen- und Betreuungszeiten zur Verfügung gestellt werden. Diese, im Idealfall gemeinsam mit den Kindern geplanten und gestalteten, Schulhöfe können nicht nur einen ausgesprochen wertvollen Beitrag für die Entwicklung von Kindern leisten, sondern sind ebenso für eine qualitative (Weiter-)Entwicklung von Ganztagsgrundschulen wichtig.
Zum Autor: Dr. Ahmet Derecik ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Sportdidaktik und Unterrichtsforschung der Humboldt-Universität Berlin.
Literatur
Derecik, A. (2011). Der Schulhof als bewegungsorientierter Sozialraum. Eine sportpädagogische Untersuchung zum informellen Lernen an Ganztagsschulen. Aachen: Meyer & Meyer.
Derecik, A. (2015). Praxisbuch Schulfreiraum – Gestaltung von Bewegungs- und Ruheräumen in der Schule. Wiesbaden: VS.
Derecik, A. (2017). Important aspects regarding the design of playgrounds on school yards. Playground@Landscape 5, 30-39.
Dietrich, K. (1992). Bewegungsräume. Sportpädagogik, 16 (4), S. 16-21.
Finger, J.D., Varnaccia, G., Borrmann, A., Lange, C. & Mensink, G. (2018). Körperliche Aktivität von Kindern und Jugendlichen in Deutschland – Querschnittsergebnisse aus KiGGS Welle 2 und Trends. Journal of Health Monitoring, 3(1), 24–31. https://doi.org/10.17886/RKI-GBE-2018-006.2
Harring, M. & Peitz, J. (2021). Freundschafts- und Peerbeziehungen im Kindesalter. Entdeckungskiste: Schulkindbetreuung. Themenheft – Freundschaften, Heft 4/2021. Freiburg: Herder, S. 8–14.
Krappmann, L. (1984). Die Kinder im Schulalter – Zur psychischen Entwicklung der Schulkinder und die Anforderungen an die Pädagogik. In R. Briel, & H. Mörsberger, H. (Hg.), Kinder brauchen Horte. Freiburg: Lambertus, S. 71-90.
Löw, M. (2001). Raumsoziologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
World Health Organization (WHO). (2020). WHO guidelines on physical activity and sedentary behavior. Geneva: World Health Organization.