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Internationales Fachmagazin für Spiel-, Sport- und Freizeitanlagen

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20.02.2017 - Ausgabe: 1/2017

An Herausforderungen wachsen – Wie Kinder sich die Welt aneignen

Von Prof. Dr. Renate Zimmer (Erziehungswissenschaftlerin mit dem Schwerpunkt Frühe Kindheit. Professorin für Sport- und Bewegungswissenschaft an der Universität Osnabrück, Direktorin des Niedersächsischen Instituts für frühkindliche Bildung)

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Kinder suchen nach Herausforderungen, auf dem breiten Bürgersteig zu gehen ist eintönig, spannender ist es auf der schmalen Bordsteinkante zu balancieren. Auf die hohe Mauer zu klettern kostet zwar Kraft – bringt aber ein triumphales Gefühl hervor: Oben stehen und die Welt aus einer neuen Perspektive  betrachten, so wird die Mühe gleich belohnt. Und Treppen laden ein zum Steigen und Springen: Immer wieder hinauf und gleich wieder herunter, zuerst jede Stufe einzeln und dann zwei auf einmal…. 

Warum gehen Kinder an keiner Pfütze  vorbei, warum umgehen sie keine Mauer und lassen keinen Ball an der Seite liegen? Beharrlich verfolgen sie ihr Ziel und lassen sich auch durch einen Misserfolg nicht abbringen. Auch wenn es anstrengend ist – sie vermeiden das Leichte, suchen das Schwierige, fühlen sich durch Hindernisse geradezu herausgefordert. Und sie wiederholen eine Handlung immer wieder, ändern die Strategien, variieren die Anforderungen. Was ist der Beweggrund für die unermüdliche Erkundungsbereitschaft?

 

Neugierde und Erkundungsbereitschaft

Bewegung und sinnliche Wahrnehmung spielen von Geburt an eine wesentliche Rolle für die gesamte Entwicklung. Neugier und die Wachsamkeit der Sinne bilden die Basis für die Exploration der materialen Umwelt. Das Kind ist von Geburt an fähig zur Bildung von Theorien, die es durch das eigene Handeln überprüft, verwirft, bestätigt, modifiziert. Lernprozesse laufen selbst initiiert, selbst organisiert und erfahrungsabhängig ab. Bewegung ist vom ersten Lebenstag an Motor der kindlichen Entwicklung.

Frühkindliche Bildung geht aus von der sinnlichen Erfahrung. Kinder lernen, ihre Wahrnehmungsfähigkeit auszudifferenzieren. Diese ist Ausgangspunkt für forschendes Lernen. Aus den Erfahrungen formen Kinder Erwartungen, Theorien, Hypothesen. Sie machen sich Vorstellungen über mögliche Zusammenhänge und überprüfen dies, indem sie die Dinge genauer untersuchen. Deswegen ist eine Treppe auch nie nur eine Verbindung zwischen verschieden hohen Ebenen, sie  ist vielmehr Basis für vielfältige Handlungsvariationen, für das Erproben des eigenen Könnens, ein Übungsfeld für die Motorik,  ein Ort der Grenzerfahrung und der Selbstbildung.

 

Sich aktiv betätigen - den Körper wahrnehmen

Beim Laufen, Rennen, Klettern, Springen, Kriechen, Rutschen, Hüpfen, Gleiten, Hängen und Schaukeln können Kinder die Vielfalt ihrer Bewegungsmöglichkeiten erleben, sie genießen die sinnlichen „Sensationen“: Leichtigkeit und Schwere, Geschwindigkeit und Rhythmus, Schwindel und Balance. Die Bewegungserlebnisse führen einerseits zur Sensibilisierung der Körperwahrnehmung, auf ihrer Grundlage bildet sich aber auch das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten.

Auch wenn die Bewegungsaktivitäten anstrengend, die Aufgaben schwierig  sind, von den Kindern werden sie als lustvolles Tun erlebt, der Sinn liegt in der Erfüllung des Augenblicks. Hier, jetzt, heute soll es spannend und erlebnisreich sein. Dabei bedarf es keiner Belohnungen von außen. Die Belohnung liegt in der Tätigkeit selbst, sie wird in den Ereignissen des Augenblicks gefunden.

 

Sich selber spüren – das Körperselbst

In dieser körperlich-sinnlichen Begegnung mit der Welt, in der Verbindung von Bewegung und Wahrnehmung bildet sich das „Körperselbst“ heraus, es resultiert aus dem Erleben und Wahrnehmen, aus dem Spüren der eigenen Person. Das Körperselbst entwickelt sich in der Auseinandersetzung mit der Welt, aus der kinästhetischen (Bewegungs-) Wahrnehmung, aus der vestibulären (Gleichgewichts-) Wahrnehmung, durch die Wahrnehmung, die in den Muskeln, Sehnen und Gelenken zu spüren ist und dem Kind ein Gefühl für seinen Körper vermittelt: Wie müssen die Hände nacheinander greifen, wenn sie sich an den Ästen eines Baumes sichern wollen, wie müssen die Beinbewegungen koordiniert werden, wenn ein Ast überstiegen werden soll? Wie stark muss die Kraft sein, um sich an einem Ast zu halten und wie muss ich bei der Landung das Gewicht des Körpers auffangen, wenn ich vom Baum oder von der Mauer herabspringe? (Zimmer 2016).

Diese Wahrnehmungserfahrungen sind gleichzeitig verbunden mit kognitiven Erkenntnissen: Wie leite ich den Sprung ein? Wo ist die beste Stelle für die Landung? Jede Bewegung wird antizipiert und reflektiert. Die Bewegungshandlungen vermitteln aber auch unmittelbare emotionale Erfahrungen: Traue ich mir zu, so weit nach oben in den Baum zu klettern? Wie weit darf der nächste Ast entfernt sein, damit ich ihn fassen kann? Schaffe ich es, mich an den Ästen zu halten? Gelingt es mir, auch wieder herunter zu kommen?

Sensorische, motorische, kognitive und emotionale Erfahrungen gehen ineinander über, und immer bedarf es der Entscheidung des Kindes,  weiter zu klettern oder abzubrechen, sich auf die eigenen Kräfte zu verlassen oder nach Hilfe zu rufen, durchzuhalten oder aufzugeben.

 

Das Selbstempfinden

Nach Stern (2010) gibt es ein Selbstempfinden, lange bevor es die Sprache gibt. Kern beschreibt das Selbstempfinden als Prozess des Ordnens und Verarbeitens von Erfahrungen im Umgang mit sich selbst und den Objekten in seiner Umwelt.

Von besonderer Bedeutung ist dabei, dass das Selbst als Urheber von Handlungen erlebt wird: Das Kind versucht, nach Gegenständen zu greifen, strampelt die Decke mit den Beinen weg, schlägt nach einem Mobile und erlebt so, dass die verursachten Effekte auf die eigenen Impulse zurückzuführen sind. Säuglinge wiederholen oft unermüdlich die gleichen Bewegungen und freuen sich über deren Effekte, ebenso werden sie ärgerlich, wenn man sie daran hindert. Selbsterzeugte Handlungen ergeben eine propriozeptive Rückmeldung, das Kind spürt am eigenen Körper, dass es selbst den Turm umgeworfen, den Ball in Bewegung versetzt hat.

Auf die Umwelt einwirken zu können, selbst etwas verändern, eine Situation unter Kontrolle haben zu können, hat hohen Einfluss auf die Wahrnehmung und Einschätzung der eigenen Fähigkeiten.

 

Durch die eigenen Handlungen etwas bewirken

Etwas bewirken – den Effekt einer Handlung auf die eigene Anstrengung, das eigene Tun zurückführen können, dies gehört zu den wesentlichen Erfahrungen, die die Grundlage zur Bildung einer zuversichtlichen, positiven Grundeinstellung des Kindes zu sich selbst und gegenüber seiner Umwelt führen.

Diese als „Selbstwirksamkeit“  beschriebene Erfahrung ist zu verstehen als Überzeugung eines Menschen, in konkreten Situationen subjektive Kontrolle zu erleben und sich dabei als kompetent zu fühlen (Zimmer 2012 b).

Gerade in Bewegungshandlungen erleben Kinder, dass sie Ursache bestimmter Effekte sind. Im Umgang mit Objekten, Spielsituationen und Bewegungsaufgaben rufen sie eine Wirkung hervor und führen diese auf sich selbst zurück. Sie bauen einen hohen Turm aus Klötzen, werfen ihn um, bauen ihn gleich wieder auf… Das Handlungsergebnis verbinden sie mit der eigenen Anstrengung, dem eigenen Können – und so entsteht ein erstes Konzept eigener Fähigkeiten. Sie lernen im Experimentieren und Ausprobieren: »Ich habe etwas geschafft, ich kann es« – und dieses Gefühl stellt die Basis für das Selbstvertrauen bei Leistungsanforderungen dar.

 

Erwartungshaltung

Jedes Handeln des Kindes wird beeinflusst durch die eigene Erwartungshaltung: Wie schätzt es sich selber ein? Was traut es sich selber zu?

Wer glaubt, die Ergebnisse seines Tuns nur wenig im Griff zu haben, wird auch nur wenig Stolz auf das Erreichte haben können. Erfolge werden dann weniger der eigenen Anstrengung und den eigenen Fähigkeiten, sondern eher Glück oder Zufall zugeschrieben.

Überzeugungen der eigenen Wirksamkeit können für den Erfolg entscheidender sein als die objektiven Leistungsvoraussetzungen. Wer darauf vertraut, eine Aufgabe selbstständig bewältigen zu können, wird sich eher ein gewisses Schwierigkeitsniveau zutrauen. Selbstwirksamkeitsüberzeugungen haben daher auch einen stark motivierenden Effekt: Situationen, die kontrollierbar erscheinen, werden erneut aufgesucht, die eigene Kompetenzerwartung steigert das Selbstwertgefühl. Ist dagegen die Erwartung eigener Handlungskompetenz nur gering ausgeprägt, dann vermeidet das Kind eher Situationen, die ihm als nicht zu bewältigen erscheinen. Es vermeidet den vermeintlichen Misserfolg - ohne ihn überhaupt erlebt zu haben.

 

An Herausforderungen wachsen

Kinder wachsen an den Herausforderungen, denen sie begegnen, die sie sich selber stellen. Damit dies gelingt, sollten einige Prinzipien berücksichtigt werden:

  • Eigenaktivität und Selbsttätigkeit herausfordern 
  • Passung von Aufgabenschwierigkeit und Handlungsmöglichkeiten
  • Rückmeldungen geben
  • Kontrolle über die eigene Tätigkeit erleben

Für das Entdecken der eigenen Stärken ist es wichtig, dass Kinder auf viele Situationen treffen, in denen sie Gelegenheiten für Selbsttätigkeit und Eigenaktivität haben, in denen sie auch körperlich herausgefordert werden.
Die Herausforderungen müssen auf die Voraussetzungen der Kinder abgestimmt sein. Der Schwierigkeitsgrad darf sie nicht überfordern. Ein Kind muss sich der Aufgabe gewachsen fühlen, die Fähigkeiten sollten seinen Handlungsmöglichkeiten entsprechen

Ein erstes wichtiges Feedback wird dem Kind durch die eigenen Bewegungen, den eigenen Körper gegeben. Das Kind spürt, wie es sich festhalten kann, wie es das Halten des Gleichgewichts auf einer Mauer durch die eigenen Bewegungen (das Ausbalancieren mit den Armen, das Aufsetzen der Füße) unterstützen kann. Der eigene Körper liefert Rückmeldung in Form der kinästhetischen Bewusstheit (es ist mir gelungen, ich bin hinaufgekommen…) des Bewusstseins der eigenen Bewegungsempfindungen.

Rückmeldungen erhält das Kind aber auch durch Kommentare, verbale Rückmeldungen von der sozialen Umwelt, von seinen Bezugspersonen, Eltern, Erziehern. Diese sollten ermutigend sein, die Versuche des Kindes bekräftigen und unterstützen („so weit bist du schon geklettert“, „mutig, was du dir zutraust“).

Wichtig für den Aufbau einer positiven Grundeinstellung sich selbst gegenüber ist, dass die Kinder ein Gefühl von Kontrolle über die eigene Tätigkeit erleben können (und damit Kontrolle über sich selbst). Sie sollten also die Möglichkeit haben, Schwierigkeitsgrade selbst auszuwählen (die Höhe der Mauer, die Art der Bewältigung) und ebenso zwischen konkreten Handlungsalternativen abzuwägen.

 

Bildung des Selbstkonzeptes – eine wichtige Entwicklungsaufgabe der frühen Kindheit

Ob ein Kind Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten hat oder ob es diese nur gering einschätzt, ob es aktiv auf andere zugeht oder sich eher abwartend verhält, ob es bei Schwierigkeiten schnell aufgibt oder sich durch sie geradezu herausgefordert fühlt – all das ist abhängig von dem Bild, das das Kind von sich selber hat.

In diesem Selbstbild spiegeln sich die Erfahrungen wider, die es in der Auseinandersetzung mit seiner sozialen und materialen Umwelt gewonnen hat, ebenso aber auch die Erwartungen, die von der Umwelt an das Kind herangetragen worden sind.

So entwickelt jeder Mensch im Laufe seiner Biografie ein System von Annahmen über seine Person, ergibt sich quasi eine Antwort auf die Frage: „Wer bin ich?“ Einen wichtigen Stellenwert nehmen in diesem Zusammenhang die über den Körper und die Bewegung gemachten Erfahrungen eines Kindes ein: Durch Bewegungshandlungen lernen Kinder sich selber kennen, sie erhalten Rückmeldung über das, was sie können, sie erfahren Erfolg und Misserfolg und erkennen, dass sie ihn selber bewirkt haben. Sie erleben aber auch, was andere ihnen zutrauen, wie sie von ihrer sozialen Umwelt eingeschätzt werden.

Diese Erfahrungen, Kenntnisse und Informationen münden ein in Einstellungen und Überzeugungen zur eigenen Person, die sich mit dem Begriff »Selbstkonzept« fassen lassen.

Die Bildung des Selbstkonzeptes ist eine wichtige Entwicklungsaufgabe der frühen Kindheit. Hier aufgebaute Vorstellungen von der eigenen Person bilden die Basis der eigenen Einstellung auch noch in späteren Lebensjahren (Zimmer 2012 a, S. 15 ff.).

Kinder erleben durch ihre körperlichen Aktivitäten, dass sie selbst im Stande sind, etwas zu leisten, ein Werk zu vollbringen, dass sie mit ihren Handlungen etwas bewirken können. Bereits im Kleinkindalter äußert sich das Bemühen um Selbstständigkeit am deutlichsten in körperlich-motorischen Handlungen. Sich alleine anziehen, ohne fremde Hilfe laufen, auf eine Mauer klettern und wieder hinunterspringen – dies sind körperliche Errungenschaften, die dem Kind (und auch seinen Eltern und Bezugspersonen) schrittweise die zunehmende Unabhängigkeit beweisen.

Selbstständigkeit heißt zunächst einmal, »selber stehen können«, im wörtlichen wie im übertragenen Sinne.

Bei Kindern sind es also insbesondere die über den Körper und die Sinne gewonnene Erfahrungen, die für den Prozess der Selbstwahrnehmung von Bedeutung sind.

Sie sind subjektiv von Bedeutung, da ein Kind mit ihrer Hilfe die eigene Kompetenz einschätzen kann, sie haben jedoch auch eine objektive Bedeutung, da sie Verhaltenserwartungen vonseiten der sozialen Umwelt beeinflussen.

Die erfolgreiche Bewältigung einer Aufgabe, die geglückte Überwindung eines Hindernisses sind für ein Kind  mehr als ein Erfolgserlebnis. Sie verschaffen Glücksgefühle. Der Sinn der Handlungen liegt nicht im Gewinn von Belohnungen oder Lob, der Sinn liegt in der Handlung selbst.

 

 

Literatur

Stern, Daniel (2010). Die Lebenserfahrung des Säuglings. Stuttgart: Klett Cotta

Zimmer, Renate  (2012 a). Psychomotorik für Kinder unter drei Jahren. Freiburg: Herder

Zimmer, Renate (2012 b). Handbuch Psychomotorik. Theorie und Praxis der psychomotorischen Förderung. Freiburg: Herder.

Zimmer, Renate (2014). Handbuch der Bewegungserziehung. Grundlagen für Ausbildung und pädagogische Praxis. Freiburg: Herder.

Zimmer, Renate (2016). Handbuch Sinneswahrnehmung. Grundlagen einer ganzheitlichen Erziehung und Bildung. Freiburg: Herder

 

Foto: eibe Produktion & Vertrieb GmbH & Co.KG

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