Von Prof. Dr. Rolf Schwarz (Pädagogische Hochschule Karlsruhe, Institut für Bewegungserziehung und Sport (IfBS)
Stellen wir uns kurz den schönsten Spielplatz der Welt vor – und keiner könnte hinkommen! Die in der DIN 18034 als Erreichbarkeit beschriebene Norm fordert deshalb von Spielplatzplanern, dass Kinder und Jugendliche „(...) Spielplätze und Freiräume zum Spielen in Wohnungsnähe barrierefrei und selbstständig erreichen können“ müssen (2020-10, S. 8). Die „Nähe“ zur Wohnung wird abhängig vom Alter numerisch sehr konkret angegeben:
Für Kinder bis zum vollendeten 6. Lebensjahr (0 bis 5,99 Jahre) innerhalb von 200 m Fußweg oder in einem Zeitraum bis 6 Min. Anmerkung 1 der DIN: „Diese Anforderung entspricht einem Einzugsradius von etwa 175 m.“
Für Kinder zwischen 6 und 11 Jahren (6,0 bis 11,99 Jahre) innerhalb von 400 m Fußweg oder binnen 10 Min. Anmerkung 2 der DIN: „Diese Anforderung entspricht einem Einzugsradius von etwa 350 m.“
Für Kinder ab 12 Jahren und Jugendliche innerhalb von 1.000 m Fußweg oder binnen 15 Min. Anmerkung 3 der DIN: „Diese Anforderung entspricht einem Einzugsradius von etwa 750 m.“
So erleichternd konkret diese Vorgaben zunächst scheinen, genauso problematisch sind sie. Das erste Problem betrifft den Begriff selbst, da er häufig mit jenem der sog. Zugänglichkeit verwechselt wird. Erreichbarkeit meint das Durchqueren des Raumes, die Entfernungen, dortige Hindernisse, bzw. Vernetzungsmöglichkeiten (z. B. Querungen) und Orientierungshilfen (z. B. Leitsysteme). Neben diesen materiellen Barrieren bedingen ideelle Faktoren die Erreichbarkeit mit, wie z. B. die Gebote und Verbote von Eltern („Bleib immer auf dem Gehweg!“; „Geh an der Ampel über die Straße!“). Zugänglichkeit hingegen bedeutet das Überhaupt des Betretens von Räumen, einerseits in materieller (Zäune, Tore, Schwellen, Absätze, Podeste, „Kleinkindfilter“) und andererseits ideeller Art (Schilder mit ihren Verboten und Geboten sowie generell Regeln).
Das zweite Problem ist die Frage, wann der Spielplatz tatsächlich erreicht ist: Gilt das Angekommen-Sein für die Mitte des Spielplatzes oder für die Eingänge? Nimmt man die am wenigsten mobile Gruppe der 0- bis 6-Jährigen und somit die 200 m-Variante, erzeugt man bei Benutzung der Spielplatzmitte als Referenzpunkt einen substantiellen Denk- und Rechenfehler: Denn wie das diesem Artikel zugrunde liegende Forschungsprojekt zeigt, ergeben sich zwischen den Eingängen und der Mitte eines Spielplatzes je nach Fläche Differenzen von 5 bis 30 Metern Luftlinie. Je nachdem, aus welcher Richtung man kommt, verlängert sich die Erreichbarkeit bis zur Mitte des Platzes also um 2,5 % (5 m) bis zu 15 % (30 m). Aus motorischer Sicht mag das kein Problem, sondern sogar ein Gewinn sein, weil Kinder dann längere Strecken gehen und somit den WHO-Empfehlungen für Bewegungsförderung eher nahekommen. Für die Berechnung der Spielflächenversorgung sind 15 % allerdings inakzeptabel, weil sich bei einer Gemeinde von 15.000 Einwohnenden dadurch statistisch eine Nicht-Versorgung von mehreren hundert Menschen ergibt. Bei rechnerischer Nutzung der Mitte befindet man sich nämlich im Falle der 15 %-Differenz bereits seit 30 m auf dem Spielplatz. D.h. der eigentliche Radius von Zuhause bis zum Spielplatzrand, wo der Spielplatz ja bereits losgeht, ist nur 170 m lang, was den Einzugsbereich drastisch verringert. Daher darf der Zirkel keinesfalls in der Spielplatzmitte eingestochen werden, sondern es müssen an jedem Spielplatzeingang/-ausgang einzeln (!) Radien gezogen werden. Das kann dazu führen, dass pro Spielplatz mehrere Einzugsradien gestochen werden müssen, deren Gesamtfläche zu berechnen ist, soll die Realität angemessen abgebildet werden.
Das dritte Problem ist die Gleichsetzung der Wegedistanz (Raum) mit der Wegedauer (Zeit). Abhängig z. B. vom Relief (Steigung), der Oberflächenbeschaffenheit des Weges, der Anzahl und Art von Barrieren (Ampel vs. Zebrastreifen) und weiteren Variablen, berechnen gängige Online-Routenplaner für 200 m entweder 2, 3 oder sogar 4 Minuten für Erwachsene. Die Isochoren (Raumdistanzlinien) sind also mit den Isochronen (Zeitdistanzlinien) nicht automatisch gleichzusetzen. Zudem sind diese Werte, die meist auf Erwachsenenstudien basieren, bei normalem Gehtempo gemessen. Kinderstudien hierzu sind sehr selten, bei geringer Entfernung und in einem nachgestellten Unfallszenario erhoben. Weiterhin kommen oft abweichende motivationale Faktoren hinzu, wie z. B. Gehen zur Kita, zum Freund, über die Straße, auf einer Wanderung mit den Eltern, zum Zahnarzt oder eben zum Spielen auf den Spielplatz. Es birgt keine Überraschung, dass sich die Geschwindigkeit der Attraktivität des Gehziels anpasst; mal schneller, mal langsamer. Das tatsächliche durchschnittliche Gehtempo von Kindern zu einem Spielplatz ist schlicht eine noch nicht geschlossene Wissenslücke, weshalb die Minutenangaben in der DIN 18034 mit großer Vorsicht zu gebrauchen sind.
Das vierte Problem dürfte das gewichtigste sein. Denn wie Planern und Baupraktikern bekannt sein dürfte, gelten die 200 m im Falle der 0- bis 6-Jährigen nur als Luftlinie. In der Realität werden Wege aber mit Kurven, Zickzack und gemeinhin schlängelnd gegangen oder gefahren. Dadurch ergibt sich ein viel kürzerer Radius, als die 200 m vermuten lassen. Als situativ reale „Raumlinien“ (von griech.: „choros“ = Raum) bleiben diese Isochore zwar 200 m lang, jedoch im Vergleich zur Luftlinie des Kreisradius sind sie kürzer. Die Norm korrigiert sich folgerichtig bei den U6-Jährigen selbst von 200 m auf 175 m. Doch woher kommt dieser Korrekturwert? Die Antwort ist einfach: Es handelt sich um eine erfahrungsbasierte Schätzung, die bislang noch nicht wissenschaftlich untersucht wurde. Das zugrundeliegende Forschungsprojekt zur professionell-wissenschaftlichen Spielraumanalyse in Kommunen hat genau diese Lücke geschlossen und stellt fest, dass sogar der geschätzte Korrekturwert substanziell falsch liegt: Mit einer tatsächlichen Spanne von 150 m bis 165 m Luftlinie liegt die zahlenbasierte Korrektur (Isochore statt Kreisradien) demnach um rund 6-17 % unter der Norm, was wiederum umgerechnet auf die Flächenanteile der Wohnbevölkerung zu erheblichen Verzerrungen von mehreren hundert Menschen beim Einzugsgebiet bzw. der Erreichbarkeit von Spielplätzen in einer Kleinstadt führen kann. Abbildung 2 verdeutlicht die Unterschiede zwischen den beiden Techniken.
Mit dieser neuen, wissenschaftsbasierten Vorgehensweise wird nicht nur die Realität weitaus präziser abgebildet; sie wird auch kinderfreundlicher, weil die vormalige künstliche Überdehnung wegfällt und klar wird, dass Kommunen, wenn schon nicht mehr, so zumindest aber auf keinen Fall weniger Spielfläche vorhalten müssen. Die sich daraus ergebenden Konsequenzen lauten wie folgt:
Der Einzelstich des Einzugsradius in der Spielplatzmitte bildet die Realität ungenauer ab als der Zweier- bzw. Mehrfachstich an den Spielplatzein-/-ausgängen. Generell gilt: Je genauer die Methode, desto größer die Abweichung von der Norm. Die Anzahl der Stiche ist abhängig von der Anzahl der Zu- bzw. Eingänge. Bei der weitaus genaueren Zweistich-/Mehrstich-Methode muss deshalb jeder Spielplatz individuell an seinen jeweiligen Zu-/Eingängen vermessen und berechnet werden.
Entscheidet man sich für den Mehrfachstich, so sollten keine geraden Radien und somit Kreise gezogen, sondern realitätsgetreue Wegstrecken gezogen werden, die als Isochore weitaus genauere Flächen in Form von Polygonen bilden. Diese Polygone sind im statistischen Schnitt zwischen 30 % bis 50 % kleiner. Dies verringert das Einzugsgebiet, weshalb im Grunde zumindest bei den 0- bis 6-Jährigen weniger Spielplätze existieren, als tatsächlich benötigt werden, sofern der 200 m- bzw. der 175 m-Wert als Grundlage genommen wird. Grundsätzlich muss deshalb in den nächsten Jahren auch die Frage beantwortet werden, welcher Entfernungswert überhaupt bewegungs- und spielpädagogisch sinnvoll ist, unabhängig von der hier vorgestellten verbesserten Methode. Langfristig muss die DIN 18034 in diesem Punkt korrigiert werden.
Die individuelle Berechnung ist per Hand sehr aufwändig und bedarf deshalb einer digitalen Automatisierung, d.h. Softwareentwicklung. Diese liegt in der b-Version bereits vor und kann in Zusammenarbeit mit dem Autor als präzise und professionalisierte Spielraumanalyse umgesetzt werden.
Je besser die vorhandenen soziodemografischen sowie Infrastrukturdaten im kommunalen GIS, desto genauer die Ergebnisse. Die Daten können zudem vor Ort durch eine zusätzliche Begleitstudie des Spielraumplaners punktuell ergänzt werden.
Je mehr Spielplätze bundesweit berechnet werden, desto größter die Stichprobe und desto verlässlicher die Spielflächenbedarfsberechnung für alle Kommunen. Dazu bedarf es eines dauerhaften, flächendeckenden und regelmäßigen Spielplatzmonitors. Kurzum: Je mehr Kommunen mitmachen, desto verlässlicher die Gesamtplanung.
Literatur
Das gesamte Forschungsprojekt mit einer ausführlichen Methodik und Einführung ins Thema sowie wissenschaftlicher Literatur ist erhältlich im Herbst 2023 beim transcript Verlag:
Schwarz, R. (2023). Spielraumplanung. Zur Entwicklung und Verbesserung von Spielplätzen im kommunalen Raum. Bielefeld: transcript.
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