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Internationales Fachmagazin für Spiel-, Sport- und Freizeitanlagen

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20.08.2017 - Ausgabe: 4/2017

Die Stadt (be)nutzen - neue Wege für Spielen und Bewegen

Von Dr. des. Katrin Korth (Korth StadtRaumStrategien)

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Spielraumkonzept Altstadt Reutlingen

Spielen und Bewegung findet heute, anders als früher, vor allem auf eigens ausgewiesenen und geschützten Plätzen statt.[1] Doch mindestens genauso wichtig für das städtische Alltagserleben sowie Spiel und Bewegung sind städtische Freiräume – neben Parks und Plätzen auch Straßen und Wege oder versteckte Nischen im Stadtgefüge. Kinder und Jugendliche können in ihnen jenseits normierter, reglementierter Angebote und der Zwänge ihres oftmals komplett durchorgansierten Alltags Neues entdecken, ihren Erfahrungsraum vergrößern und in Interaktion mit anderen Stadtnutzerinnen und -nutzern treten.

Der Schwerpunkt bei der Gestaltung kinder- und jugendfreundlicher Alltagsräume lag in den letzten Jahren meist auf den Wohnquartieren - und die Voraussetzungen für Spiel und Aufenthalt sind dort mittlerweile auch vergleichsweise gut. Anders ist die Situation in den Innenstädten und historischen Altstädten. Geprägt durch eine enge Verknüpfung von Handel, Gewerbe, Gastronomie, Veranstaltungen und Kultur bietet sich auf den ersten Blick wenig Raum für Spielangebote, klassische Spielplatzflächen sind oft Mangelware. Dennoch sind die Innenstädte auch wichtige Wohnorte - mit einem Nebeneinander von verdichteten und häufig beengten Wohnverhältnissen und gleichzeitig neuen großzügigen und hochpreisigen Stadtwohnungen.

Wenngleich Kinder- und Familienfreundlichkeit zu den wichtigen weichen Standortfaktoren zählen, welche die Qualität als Einkaufs- und Verweilort unterstützen, sieht die traditionelle Stadtentwicklung meist wenig multifunktionalen Raum zu Gunsten von Kindern vor.[2] Dabei bieten vor allem die Freiräume historischer Altstädte besonderes Potenzial für die spielerische Aneignung. Mit ihrer verkehrsberuhigten Gestaltung, den verwinkelten Gassen, dem Flair der historischen Gebäude und Strukturen, mit kleinen Plätzen, historischen Brunnen und Treppen finden sich vielfältige, kleinteilige Zäsuren, die es für Kinder zu entdecken lohnt.[3] Dazu kommen ungenutzte Brachflächen sowie Parkplätze und Andienungsflächen für den Einzelhandel, die (zumindest zeitweise) Aneignungen erlauben.

Diese Ausgangssituation greift das Spielraumkonzept für die Altstadt von Reutlingen auf. Es hat sich zum Ziel gesetzt, Plätze für Kinder und Jugendliche zu identifizieren, die eine spielerische Aneignung ermöglichen und will öffentlichen Raum für Kinder zurückzuerobern.

 

Spielraum Altstadt

Seit nunmehr zehn Jahren steht die Altstadt im Fokus planerischer Bemühungen. Aufbauend auf einem städtebaulichen Ideenwettbewerb im Jahr 2006 und einem Rahmenplan für die Altstadt fasste der Gemeinderat 2007 den Beschluss zur Neugestaltung der öffentlichen Räume, die seit 2009 schrittweise realisiert werden. Da Spielen im Verständnis der städtischen Planenden weit mehr umfasst als die Zuweisung von Spielflächen oder die Schaffung punktueller Spielangebote, wurde in den Jahren 2012 und 2013 ein Konzept für Spiel, Bewegung und Aufenthalt für Kinder und Jugendliche erarbeitet. Unter der Federführung der Grünflächenabteilung und zusammen mit einem auf Spiel und Bewegung spezialisierten Planungsbüro sowie den Kolleginnen und Kollegen der Stadt-, Jugend- und Sozialplanung entstand das „Spielraumkonzept Altstadt“, welches als Ideensammlung und Handlungsrahmen nun die Leitlinie für die kinder- und familienfreundliche Gestaltung der Altstadt vorgibt. Dabei sollten keine „klassischen“ und letztlich beliebigen, austauschbaren Spielpunkte gestaltet werden, sondern anhand der spezifischen Eigenheiten der baulichen Strukturen und Nutzungen der Altstadt Spiel- und Aufenthaltsräume für Kinder und Jugendliche identifiziert und Vorschläge für ihre Ausgestaltung gemacht werden. Schwerpunkt liegt auf Bewegungsangeboten, die ein Miteinander sowie ein generationenübergreifendes Wechselspiel von Aktiven und Zuschauern ermöglichen und damit Prozesse der Raumaneignung befördern können.[4]

 

Spielen erwünscht – die Grundprinzipien

Das Spielraumkonzept baut auf mehreren Prinzipien auf:

 

  • Prinzip der „Akteure und Voyeure“: Wechselspiel im Verständnis von Raum(be)nutzung als generationenübergreifendes Miteinander von Aktiven und Zuschauern

 

  • Prinzip der räumlichen Verknüpfung und Vernetzung von Wegen und Schnittstellen, um Verbindungen und Nachbarschaften anzuzeigen

 

  • Prinzip des Wiederkehrenden: Spielmöglichkeiten in wiederkehrenden und damit wiedererkennbaren Materialien und Farben sowie einer gleichen Symbolik

 

  • Prinzip der Nutzung vorhandener Strukturen und der überraschenden Umdeutung dieser: dadurch wird eine Integration vorhandener, nicht klassischer Spielorte möglich, deren charakteristische Besonderheiten dennoch zum Spiel animieren

 

  • Prinzip der Multifunktionalität, denn viele funktional eindeutig zugewiesene Dinge eignen sich auch zum Spielen, wie beispielsweise Poller, Fahrradabstellanlagen oder Schilder

 

  • Prinzip der Rückgewinnung von öffentlichem Raum für das Spielen durch (auch temporäre) Umnutzung von beispielsweise Parkplätzen und Straßen

 

Die einzelnen Bausteine der insgesamt 36 Spielorte ergänzen sich inhaltlich und optisch, um so einen Wiedererkennungswert zu erhalten und vor allem, um zu signalisieren, dass Spielen ausdrücklich erwünscht ist. Dabei soll Bespielbarkeit in einem sehr freien Sinn ermöglicht werden. Das Gesamtkonzept ist modular aufgebaut und damit schrittweise umsetzbar. Die Realisierung erfolgt im Zuge von ohnehin anstehenden Projekten oder auch mittels Spielplatzablösen im Zusammenhang mit Baugenehmigungen (einem in Reutlingen erfolgreich praktiziertem Instrument). Möglich sind Kooperationen mit Firmen und Einzelhändlern.

 

Realisierung

Ideen abseits des klassischen Planungsverständnisses für Spielen sind mitunter der Öffentlichkeit wie auch der Politik schwer vermittelbar. Bei Innenstadtkonzepten sind es oft Einzelhändler, die sich für punktuelle Design-Objekte einsetzen - in der gut gemeinten Überzeugung, so Kinder- und Familienfreundlichkeit sichern. Glücksfall für das Spielraumkonzept Reutlingen war der zeitliche Handlungsdruck durch mehrere, gerade in der Umsetzung befindliche Baumaßnahmen. Damit konnten erste - in ihrer Bedeutung für die weitere Realisierung wesentliche - Bausteine sofort umgesetzt werden. In eine neue Freifläche vor dem historischen Tübinger Tor wurden drei Trampoline integriert – nur vermeintlich eine kleine Intervention. An dieser stadträumlich bedeutenden Stelle eröffnet sich jetzt ein überraschendes Angebot, welches generationenübergreifend in einer Intensität genutzt wird, mit der wohl niemand in der Stadt gerechnet hätte. Von morgens und bis spät in den Abend hinein tummeln sich Kinder, Jugendliche und Erwachsene, umringt von zahllosen Zuschauern. Es hätte keinen besseren Auftakt geben können, um die Grundprinzipien des Spielraumkonzeptes zu verdeutlichen.

Es folgten Spiel- und Bewegungsangebote auf dem ebenfalls historischen Nikolaiplatz: Kletterwand und Slackline als Bewegungsangebote für Kinder und Jugendliche, ein sogenannter Citysandkasten als Spielangebot für kleinere Kinder und Familien. Hierfür brauchte es das Miteinander aller Akteure, das benachbarte Café hat Vorteile durch die erhöhte Attraktivität seiner Außengastronomie, aber auch Arbeit, wenn der Sandkasten abends abgedeckt werden muss. Überhaupt ist die Einbeziehung der verschiedenen Akteure - Anlieger, Bürger sowie vor allem Kinder und Jugendliche - grundlegend für die Realisierung des Konzeptes. Beispielsweise wurden für den Weibermarkt zusammen mit dem Naturkundemuseum Angebote entwickelt, die die Themenschwerpunkte des Museums spielerisch in den Außenraum transportieren. Auch die Sanierung zweier vorhandener Spielplätze erfolgt nach den Grundprinzipien des Spielraumkonzeptes, neben barrierefreien Angeboten ging es hier vor allem um die Rückgewinnung von öffentlichem Raum für Kinder und Jugendliche. So konnte, nach intensiven und zum Teil kontroversen Diskussionen mit den Anwohnern, die an den Spielplatz Nürtingerhof angrenzende Straße einbezogen werden, die jetzt beispielsweise Raum für bewegungsintensive Ballspiele bietet.

Aktuell werden im Bürgerpark, einer direkt an die Altstadt angrenzenden neuen Freifläche auf einer ehemaligen Gewerbebrache, eine Skateanlage, Wasserspiele und Spiel- und Bewegungsangebote mit Slacklines, einem Schaukelpark und Fitnessgeräten für Calisthenics realisiert. Nicht nur Jugendliche erhalten damit einen attraktiven Platz inmitten der Stadt, denn auch hier steht das generationenübergreifende Miteinander im Vordergrund. Die Gesamtmaßnahmen für Spiel und Bewegung umfassen seit 2013 Baukosten in Höhe von rund 1,1 Mio Euro, eine beachtliche Summe angesichts der ansonsten in Reutlingen für Spielplätze zur Verfügung stehenden Mittel.

 

Chancen und Herausforderungen

Auch wenn möglicherweise nicht alle Ideen des Spielraumkonzeptes umsetzbar sind, lohnt es sich, neue Wege zu gehen. Es braucht dafür das Bewusstsein, dass Spielen mehr ist als das Aufstellen von Spielgeräten - und den Mut, einfach etwas umzusetzen, denn vor allem so lassen sich besondere Ideen vermitteln. In kommunalpolitischen Diskussionen ist dabei dennoch ein langer Atem erforderlich, auch wenn sich alle über die Bedeutung weicher Standortfaktoren und die Notwendigkeit kinderfreundlicher Stadtgestaltung einig sind. Die beste Werbung für kinder- und jugendfreundliche Städte sind deshalb immer die Nutzerinnen und Nutzer.

 

Meinungen

Die Sicht der Unterhaltenden

Spielräume in der Altstadt sind rar und deshalb hoch frequentiert. Bei drei Bodentrampolinen in der Rasenfläche vor dem Tübinger Tor konnten wir dies eindrucksvoll feststellen. Die Rasenfläche war dem hohen Spieldruck nicht gewachsen und musste durch Rasengittergummiplatten ersetzt werden. Doch auch diese Lösung müssen wir zugunsten eines vergossenen Fallschutzbelages überdenken, um dem Ansturm der vielen Nutzer gerecht zu werden. (Axel Rieber, Projektleiter in der Grünflächenabteilung)

 

Die Sicht der Nutzenden

Die Trampoline sind toll. Man kann sich mit Freunden treffen und gemeinsam springen. Man kann dort Parkour trainieren und auch die Umgebung wie die Abfalleimer einbeziehen. Beim Hüpfen kann sich das Mittagessen setzen. Die Lage neben dem Zentralen Omnibusbahnhof ist prima: man kommt vorbei wenn man in die Schule geht; man kommt vorbei, wenn man nachhause geht. Und es ist dort immer was los. Eine zusätzliche Trainingsanlage (Calisthenics) würde uns auch gefallen. (Lorenz (12) und Domenico (14))

 

Die Sicht des Planenden

Der öffentliche Raum als Spiel- und Bewegungsort für alle Generationen. Das soziale Miteinander wird gefördert. Es geht in der Altstadt von Reutlingen ganz schlicht um die Neuentdeckung des öffentlichen Raumes losgelöst vom reinen Konsumgedanken. Der Freiraum der Altstadt wird durch die Realisierung des Spielraumkonzeptes wieder ein Stück `zweckfrei´ und damit zum Aneignungsort. (Dirk Schelhorn, Planer)

 

 

[1] Vgl. Winfried Börner: Wohnraum_Spielraum in Stuttgart. Wohin mit der Jugend? In: Gerd Kuhn, Susanne Dürr, Christina Simon-Philipp: Räume zum Leben. Strategien und Projekte zur Aufwertung des öffentlichen Raums. Stuttgart, 2012, S. 118

[2] Vgl. Schelhorn Landschaftsarchitektur: Spielraumkonzept für die Altstadt Reutlingen

[3] Vgl. Schelhorn Landschaftsarchitektur: Spielraumkonzept für die Altstadt Reutlingen

[4] Vgl. Jan Gehl: Leben zwischen Häusern. Berlin, 2012 Seite 23 ff.

 

 

Abbildung: Katrin Korth

 

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