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Internationales Fachmagazin für Spiel-, Sport- und Freizeitanlagen

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12.10.2021 - Ausgabe: 5/2021

Neue Formen der Raumaneignung von unten – Die Bedeutung informeller Ansätze für die Sport- und Stadtentwicklung

Von Stephanie Haury (Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) im
Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR))

Photo
2er-Skateboardverein, Hannover
© Bernd Jacob

In der vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) durchgeführten Modellvorhabenforschung des experimentellen Wohnungs- und Städtebaus (ExWoSt) konnten viele Beobachtungen zu den Themen der koproduktiven Stadtentwicklung und Raumaneignung gemacht werden. Viele der untersuchten Pilotprojekte hatten Sport und Bewegung zum Thema. Im Folgenden soll aus den Erfahrungen dieser Forschung berichtet werden.

 

Sport in der Stadt

Die Flächeninanspruchnahme von Sportnutzungen hat sich in den letzten Jahren extrem gewandelt. Sportliche Nutzungen und Betätigungen sind nicht nur auf Sportplätzen und Sportanlagen, sondern auch auf Brach- und Restflächen, im Wald, vor allem aber im öffentlichen Raum vorzufinden. Bei einer bewussten und regelmäßigen Nutzung eines Ortes innerhalb oder auch außerhalb der geltenden Regeln spricht man gerne von räumlichen Aneignungen. Es kann sich hierbei um Innenräume ebenso wie um Außen- oder öffentliche Räume handeln.

Bei Raumaneignungen im Bereich Sport und Bewegung sind verschiedene Stufen und Intensitäten zu beobachten. Sie bewegen sich von temporären und situativen Spontanhandlungen im öffentlichen Raum, über semiprofessionelle Zwischennutzungen von Brachflächen und Resträumen bis hin zu professionellen Projektentwicklungen mit langfristiger Nutzungsperspektive. 

Viele dieser Entwicklungen finden durch Uminterpretationen und Umnutzungen vorhandener, meist eindimensionaler Flächen statt. Da diese ursprünglich nur auf eine bestimmte Nutzung ausgerichtet sind, ist eine Nutzungsvielfalt erschwert oder sogar ausgeschlossen. Umnutzungen rufen daher oft Nutzungs- und Interessenskonflikte hervor, die zwischen den betroffenen Akteurinnen und Akteuren ausgehandelt werden müssen.

 

Engagement und Raumaneignung

Raumaneignungen entstehen in erster Linie durch Vorstellungen und Zielrichtungen, die von der aktuellen gelebten Kultur und Lebensphase der Nutzerinnen und Nutzer abhängen. Ihr Ziel ist es, selbst über die alltägliche Nutzung des Ortes bzw. Art und Weise des Gebrauchs des jeweiligen Raumes zu bestimmen 

Oft eignen sich Jugendliche oder junge Menschen Räume in der Stadt an. Denn mit den vorgefundenen Räumen, die ihnen Erwachsene in der Stadt definiert haben, finden sie sich entweder gar nicht oder nur schwer ab. Sie möchten selbst Räume ausfindig machen, diese verändern dürfen und sie dann ihren Anforderungen anpassen. Meistens interessieren sie sich vor allem für jene Räume, die von der älteren Generation noch nicht besetzt sind und nicht für deren Bedürfnisse ausgelegt wurden. In diesen „unberührten“ Räumen können sie sich ungestört aufhalten und weichen damit auch automatisch möglichen Auseinandersetzungen aus. 

Zentrale öffentliche Plätze und Orte sind hierbei wichtige Identifikationspunkte, in denen sie ihr Bedürfnis nach einer Präsenz in der Öffentlichkeit befriedigen können. Die Stadt wird somit zur Bühne einer Gruppe junger aktiver Menschen, die gerne ihre Vorstellungen und Ideen der älteren Gesellschaft gegenüber demonstrieren möchte.

Es handelt sich hierbei um eine ganz besondere Form der Mitwirkung und des zivilgesellschaftlichen Engagements, denn diesem liegt eine persönliche Motivation zu Grunde. Dieses öffentliche Engagement für den Raum und die daraus resultierende Aneignung ist freiwillig, nicht auf materiellen Gewinn aus und es trägt oft gemeinwohlorientierte Züge.

 

Alternative Flächennutzungen

Oft entstehen solche Aneignungen aufgrund eines Ausweichens auf Konflikt- oder Krisensituationen (z.B. Recht auf Stadt Bewegung). Im Ergebnis entsteht eine offene Positionierung zu relevanten Themen und eine kritisch basierende Protesthaltung. Ziel der jeweiligen Akteure und Akteurinnen ist, sich Gehör und eine Stimme zu verschaffen und auch eine gemeinschaftliche Meinungsbildung zu generieren.

Dies geschieht vor allem dann, wenn vorhandene und etablierte Denk-, Handlungs- und Organisationsweisen instabil werden und vorhandene Systeme unter „Stress“ geraten. Die Basis von Raumaneignung kann aber auch das Kreieren alternativer Raumbilder sein. Aufgrund von fehlender Gestaltungsfreiheit, fällt es manchen Gruppen schwer, sich mit dem jeweiligen Orten zu identifizieren. Junge Stadtmacherinnen und Stadtmacher interpretieren daher brachgefallene oder vernachlässigte Flächen und Orte um und führen diesen eine alternative Nutzung zu. Es kommt hierbei zu einer selbstbestimmten Gestaltung des Ortes, zu einer Verantwortungsübernahme und Koproduktion.

Sehr spannend ist zum Bespiel die Umgestaltung des Österreichischen Platzes in Stuttgart durch Bürgerinnen und Bürger. Sie hat das Ziel, eine langfristige Entwicklung des Ortes zum kooperativen Stadtraum für Alle zu schaffen. Durch die Überlagerung und Multicodierung vielfältiger neuer Nutzungen wie Bandproberäumen, Foodsharing, Ateliers, Werkstätten, Fahrradrepariercafé, Sozialstation, aber auch urbanen Bewegungsflächen wie eine öffentliche Boulderwand oder Tischtennisplatten entsteht ein neuer kreativer Ort der Begegnung und Innovation. Die Gruppe beschreibt selbst, dass nur „an Orten, an denen mit überholten Routinen gebrochen wird, Raum für Neues entstehen kann“. 

 

Informelle Ansätze im Sport

Sportliche Aktivitäten haben mittlerweile die gesamte Stadt erobert und verändern diese in einen Bewegungsraum. Der Sport hat sich somit von den „ursprünglich“ zugeschriebenen festen Orten und Räumen emanzipiert und im wahrsten Sinne des Wortes die Städte erobert. Es gibt hierbei vielfältige Formen des nicht organisierten bzw. informellen Sports, der auf öffentliche (Frei-)Räume und Grünflächen angewiesen ist und diese intensiv nutzt, wie z.B. für Sportarten wie Skaten, Parkour, BMX oder Breakdance. Vor allem junge Menschen nutzen den Stadtraum auch als Ort für Begegnung und für das Experimentieren. Der öffentliche Raum dient daher auch der Erprobung neuer Rollen, für die Nutzenden selbst, aber auch für eine Multicodierung des Raumes.

Genauso wichtig wie das Ausprobieren und Experimentieren von Sportarten und Sportaktionen ist jungen Menschen auch die Präsentation ihrer Ergebnisse und ihres Könnens. Ihre sportlichen Erfolge wollen sie anderen zeigen und mit ihnen teilen. Der öffentliche Raum wird dadurch zur Bühne. Auf Veranstaltungen und Aktionstagen stellen sie ihr Können unter Beweis und zeigen sich damit der Öffentlichkeit. Die Akzeptanz und Teilnahme ist noch besser, wenn diese Präsentationen dann auch noch an besonderen oder zentralen Orten in der Stadt stattfinden. Aus vielen Sportarten, die sich peu à peu in den Städten entwickelt haben und von jungen Leuten ausgeübt werden, haben sich so in den Städten in den letzten Jahren Großevents herausgebildet. 

 

Mellowpark Berlin und 2er-Skateboardverein Hannover

Neben dem öffentlichen Raum werden auch Brachflächen und ungenutzte Parkanlagen durch den informellen Sport in Beschlag genommen. Ein interessantes Beispiel hierfür zeigt der „Mellowpark“ in Berlin. Dem Jugendverein „all eins e.V.“ drohte die Vertreibung von einer durch Jugendliche angeeigneten Brachfläche, die sich nach mehreren Jahren zu einem gut besuchten Treffpunkt und Zentrum für Trendsport und Jugendkultur entwickelt hatte. Nach mehrmonatigen Protesten bot die Stadtverwaltung den jungen Sportlern einen alternativen Standort an, bei dem es sich um eine ungenutzte Park- und Sportplatzfläche im Bezirk Treptow-Köpenick handelte. Inzwischen hat sich das Projekt zu Europas größtem Skatepark entwickelt. Doch in dem Park gibt es nicht nur Angebote, die sich auf Skaten und Trendsport beziehen. Der Park ist ein wichtiger Treffpunkt für junge Berliner, bietet kulturelle Angebote sowie viele attraktive Grünbereiche an, die man selbst gestalten und aneignen kann. 

Auch das Projekt des „2er-Skateboardvereins“ in Hannover Linden zeigt auf beeindruckende Weise, wie sich junge Skater eine Brachfläche angeeignet und in einen informellen kleinen Skatepark umgewandelt haben. Eingebettet zwischen verwahrlosten Gewerbegrundstücken mit viel Wildwuchs haben sie im Eigenbau verschiedene Skatespots ausgebildet. Die vorhandenen „Sportanlagen“ fügen sich hier auf sehr natürliche Weise in ihre Umgebung ein.  Die Gruppe ist verbunden durch das gemeinsame Ziel und dem sportlichen Nutzungsfokus. Inzwischen hat der 2er-Verein nebenan eine zweite große Fläche in Beschlag genommen und ein experimentelles Container- und Wagenburgdorf aufgebaut, das „PLATZ-Projekt“. Ziel ist es, jungen Kreativen und Start-Ups einen Raum für unkonventionelle Ideen mit gemeinnützigen Ansätzen oder experimentellem Charakter in einer „selbstgemachten“ Stadt zu bieten

 

In die Zukunft gedacht

Das Uminterpretieren von Räumen bringt immer auch eine Belebung des Ortes mit sich, die von planerischer Seite aus erwünscht ist, vor allem auch im Hinblick der bestehenden Probleme durch den demografischen Wandel. Beim selbstorganisierten und informellen Sport ist ein neues Raumverständnis anzutreffen. Die monofunktionale Sichtweise auf Raum wird hierbei außer Kraft gesetzt und die vorhandenen Räume multicodiert. Die ständig neue Aushandlung von Raum und die ungeregelte Nutzung können jedoch auch zu Konflikten führen. Die Ortung, Identifikation und der Umgang mit dem selbstorganisierten bzw. informellen Sport stellt Kommunen noch immer vor große Herausforderungen, aufgrund der vielfältigen Formen, den wandelnden Orten und den vielen unterschiedlichen Akteurinnen und Akteuren.

Künftige Aufgabe der Stadtverwaltung muss es daher sein, in den Quartieren Kreativnutzungen zuzulassen und die Rahmenbedingungen einer temporären Bespielung zu erleichtern.  Um die Rahmenbedingungen solcher kreativen Nutzungen im öffentlichen Raum besser im Blick zu haben, hat das BBSR die Freiraumfibel „Wissenswertes über die selbstgemachte Stadt“ herausgegeben. Als „Freiräume” werden hier alle Flächen bezeichnet, die unverbaut oder ungenutzt sind und so Raum zur Entwicklung eigener Ideen bieten. In der Fibel sind auf sehr verständliche und einfache Weise Regeln und Ansätze enthalten, wie man sich diese Räume in einer Stadt aneignen kann. Sie enthält u.a. auch rechtliche „Schlupflöcher und Hinweise zu Ermessungsspielräumen der Kommunen, um alle vorhandenen Möglichkeiten gänzlich ausschöpfen zu können. Aneignungen von Räumen spielen nicht nur für die Ausübung informeller Sportarten oder experimenteller Ansätze eine große Rolle, sondern auch insgesamt für die Herstellung lebendiger und „bewegter“ Städte.

Aufgabe der Kommunen ist, kreative und informelle Projekte zuzulassen, sie bei ihren übergeordneten Planungen zu berücksichtigen und mit einzubeziehen. Auf den Sport bezogen heißt das: Zwischen informellen und professionellen vereinsgebundenen Sport darf keine Konkurrenzsituation entstehen. Vertreter beider Formen müssen aufeinander zugehen, voneinander lernen und sich gegenseitig akzeptieren. Denn lebendige Städte entstehen nur unter Berücksichtigung und Einbindung aller vorhandener Kräfte und Energien: hierzu gehören auch bürgerschaftlich initiierte Projekte junger Stadtmacherinnen und Stadtmacher.


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