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Internationales Fachmagazin für Spiel-, Sport- und Freizeitanlagen

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17.02.2021 - Ausgabe: 1/2021

Über Bewegung die eigene Potenziale entdecken – Ein wichtiges Entwicklungsthema in den ersten Lebensjahren

Von Prof. Dr. Renate Zimmer (Universität Osnabrück)

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© Hags-mb-Spielidee GmbH

Sich bewegen heißt vorankommen – im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Vom Robben und Krabbeln zum Aufrichten, Stehen und Gehen - Schritt für Schritt erweitert sich der Bewegungsradius des Kindes und damit auch sein Erfahrungsraum. Bewegung ist für das Kind in den ersten Lebensjahren das wichtigste Mittel, um Erfahrungen über die eigene Person, aber auch über seine soziale, räumliche und dingliche Umwelt zu gewinnen. Durch Bewegung lernen Kinder die Beschaffenheit ihrer Umwelt kennen, die Dinge und Gegenstände und ihre spezifischen Eigenschaften – diese Erkenntnisse sind eng an Bewegung gebunden. Nur durch Bewegung können sie sich ein Bild davon machen, wann, warum und wie ein Ball springt, rollt oder fliegt und wie man dies durch die eigene Handlung beeinflussen kann. Bewegung ist damit ein wichtiges Medium der Erfahrung und Aneignung der Wirklichkeit. Über ihren Körper machen Kinder grundlegende kognitive, aber auch soziale und emotionale Erfahrungen. 

 

Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten gewinnen 

„Schaffe ich den Sprung über den Graben – oder schaffe ich ihn nicht?“ „Traue ich mich, die Rutsche hochzuklettern – oder bleibe ich lieber unten?“ Ob sich ein Kind eher stark oder eher schwach fühlt, ob es Vertrauen in seine Fähigkeiten hat, ob es bei Schwierigkeiten schnell aufgibt oder sich durch sie geradezu herausgefordert fühlt – all das ist abhängig von dem Bild, das das Kind von sich selber hat. 

Dieses Bild entsteht über die Erfahrungen, die das Kind in den ersten Lebensjahren über seinen Körper gewinnt. Es macht die Erfahrung von Können und Nicht-Können, von Erfolg und Misserfolg, von seiner Leistungsfähigkeit und seinen Grenzen. 

Kinder erleben durch ihre körperlichen Aktivitäten, dass sie selbst imstande sind, etwas zu leisten, ein Werk zu vollbringen, dass sie mit ihren Handlungen etwas bewirken können. Bereits im Kleinkindalter äußert sich das Bemühen um Selbständigkeit am deutlichsten in Bewegungshandlungen. Sich alleine anziehen, ohne fremde Hilfe laufen, auf eine Mauer klettern und wieder hinunterspringen – dies sind körperliche Errungenschaften, die dem Kind (und auch seinen Eltern und Bezugspersonen) schrittweise die zunehmende Unabhängigkeit beweisen. Selbständigkeit heißt zunächst einmal „selber stehen können“, im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. 

 

Selber etwas bewirken können

Gerade bei Bewegungsaktivitäten erleben Kinder, dass sie Urheber von Effekten sind, dass sie etwas bewirken können. Ein Spielauto in Fahrt versetzen, den Ballon in die Luft stoßen, den Buggy anschieben, das ist viel lustvoller und erlebnisreicher als selbst darin zu sitzen und sich schieben zu lassen. Im Umgang mit Dingen, Spielsituationen und Bewegungsaufgaben rufen sie eine Wirkung hervor und führen diese auf sich selbst zurück. So bauen sie einen hohen Turm aus Klötzen und werfen ihn dann gleich wieder um – um ihn anschließend wiederaufzubauen.  Das Handlungsergebnis verbinden sie mit der eigenen Anstrengung, dem eigenen Können – und so entsteht eine erste Vorstellung von den eigenen Fähigkeiten. Sie lernen im Experimentieren und Ausprobieren: Ich habe mit dem Ball das Tor getroffen, den Kegel umgeworfen, den Turm wiederaufgebaut. Ich kann etwas! Dieses Erlebnis ist die Voraussetzung dafür, bei auftretenden Schwierigkeiten nicht gleich aufzugeben, sich künftigen Anforderungen gewachsen zu fühlen. 

Positive Bewegungserfahrungen, das Erleben der eigenen Wirksamkeit können dazu beitragen, dass die Kinder ein realistisches, aber leistungszuversichtliches Selbstbild aufbauen.   So entwickeln sie die Voraussetzungen für Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein (Zimmer 2019b) 

 

Könnenserfahrungen machen – sich als kompetent erleben

Etwas geschafft zu haben bringt das Gefühl mit sich, Kontrolle über die eigene Situation zu haben, für die beobachtbaren Effekte selbst verantwortlich zu sein: Die Mauer ist bezwungen, auf der Schaukel kann ich bis in den Himmel schwingen… Diese Erfahrungen führen nicht nur zu Glückserlebnissen, sondern auch zum Bewusstsein des eigenen Könnens. Es entsteht das Gefühl, Kontrolle über die Situation zu haben und über Kompetenzen zu verfügen. Sie bilden die Grundlage für eine positive Lebenseinstellung: nicht hilflos dem Schicksal ausgeliefert sein, sondern selbst etwas unternehmen können. Das Kind kann das Resultat seines Tuns kontrollieren, es kann den Effekt der Handlungen auf sich selbst zurückführen. 

Je mehr Gelegenheiten das Kind zum Erkunden und Erforschen seiner Umwelt hat, umso mehr Situationen kann es auch „meistern“. Ein ängstliches unsicheres Kind wagt sich nicht ohne weiteres an neue unbekannte Aufgaben heran, es zieht sich eher auf das zurück, was es kennt, was ihm vertraut ist. Es traut sich weniger zu, als es tatsächlich bewältigen kann. Gerade für diese Kinder ist es wichtig, dass sie von ihren Bezugspersonen Ermutigung erfahren, dass sie Anregungen zum Entdecken ihrer eigenen Potentiale erhalten, dass sie Könnenserlebnisse machen, und damit ihr Selbstwertgefühl gestärkt wird. 

Jede gelungene Handlung dagegen fordert zu neuen Taten heraus. So wird ein aktives, neugieriges, sich sicher fühlendes Kind sich auch auf unbekannte Situationen eher einlassen, wird etwas wagen, etwas ausprobieren, und das schöne Gefühl, selbständig etwas geschafft zu haben, genießen können. 

 

Lernen durch Ausprobieren und Erkunden

In Bewegung lernen Kinder ihre dingliche und räumliche Umwelt kennen. Gegenstände und Objekte werden ausprobiert, ihre Eigenschaften erkundet, ihre Gesetzmäßigkeiten erkannt. 

Bereits das Kleinkind experimentiert mit den Dingen und erprobt ihre Gesetzmäßigkeiten. Etwa das Baby im Hochstuhl: Es lässt alles, was in seine Reichweite kommt, auf den Boden fallen. Natürlich benötigt es bei diesem Spiel jemanden, der die Sachen wieder aufhebt und ihm wiedergibt – damit sie gleich wieder auf dem Boden landen. Man könnte meinen, das Baby wolle einen ärgern. Dabei hat es gerade eine hochinteressante Versuchsreihe aufgebaut, die da heißt: Alles fällt nach unten. Und alle Dinge machen unterschiedliche Geräusche: der Keks, die Rassel, der Ball. Ein Experiment lebt von der Wiederholung. Immer wieder muss das Kind überprüfen, ob das Gesetz auch wirklich stimmt. Es braucht Erwachsene, die sich an seinem Spiel beteiligen, die anteilnehmen an seinen Versuchen, die Welt zu entdecken und zu verstehen, wie sie funktioniert. 

Sich bewegen heißt auch, Strategien zur Lösung von Problemen entwerfen: Herauszufinden, wie man – auf einer Mauer balancierend – das Gleichgewicht halten kann, an welcher Stelle man abspringen muss, um einen Graben zu überwinden, dies erfordert ein Abwägen, Einschätzen, Ausprobieren und evtl. auch die Änderung des ursprünglichen Plans. Immer ist das Kind dabei auch geistig gefordert, es denkt quasi in seinen Handlungen. So machen Kinder beim Balancieren auf der Bordsteinkante oder auf der Mauer Erfahrungen über das Gleichgewicht. Sie breiten die Arme zur Seite aus, setzen die Füße vorsichtig voreinander, verlagern ihr Gewicht von einem Bein auf das andere..... Was der Begriff „Gleich-Gewicht“ bedeutet, können sie nur verstehen, wenn sie in verschiedenen Situationen mit dem eigenen Körper-Gleichgewicht experimentieren können. Und auch beim Schaukeln experimentieren sie mit der Körperhaltung, um den Schwung zu verstärken oder abzubremsen. 

So bilden Kinder mit Hilfe von körperlichen Erfahrungen und Sinneserfahrungen Begriffe, im Handeln lernen sie Ursachen und Wirkungszusammenhänge kennen und können diese aufeinander beziehen.

Das Mittel hierzu stellen die Bewegungshandlungen dar. Sie sind die Elementarstufe der Intelligenzentwicklung. Denken vollzieht sich zunächst in der Form aktiven Handelns: Über die praktische Bewältigung von Situationen gelangt das Kind zu deren gedanklicher Beherrschung (Zimmer 2020). 

 

Motorische Fähigkeiten entwickeln

Bewegung ist jedoch nicht nur ein Mittel der Erfahrung, Kinder entwickeln auch ihre eigene Motorik weiter. Bei einem Fangspiel die weglaufenden Mitspieler erreichen oder dem Fänger ausweichen, eine Treppe mit vielen Stufen hochsteigen, auf einem Bein stehen, einen schweren Kasten wegschieben, beim Seilspringen den richtigen Rhythmus finden und mehrere Sprünge hintereinander ausführen können - um diese Aufgaben zu bewältigen brauchen Kinder Ausdauer, Kraft, Koordination und Gleichgewicht. Diese motorischen Fähigkeiten sind die Voraussetzung für jede motorische Leistung. Sie reifen nicht von alleine und ohne Zutun heran, sondern entwickeln sich vor allem durch ihre Beanspruchung, indem sie bereits im Kindesalter durch vielfältige Bewegungsspielformen geübt, herausgefordert und „trainiert“ werden. Ein solches Training erfolgt im Kindesalter jedoch einzig und allein im Spiel: Kinder genießen sogar das Gefühl von Erschöpfung und Ermüdung nach einem anstrengenden Fangspiel, von Entspannung und Gelöstheit nach einer rasanten Fahrt auf dem Roller. Sie spüren die Belastbarkeit des Körpers, die Fähigkeit des Organismus, sich zu erholen und nach kurzer Pause wieder einsatzfähig zu sein. 

Beim Laufen, Rennen, Klettern, Springen, Kriechen, Rutschen, Hüpfen, Gleiten, Hängen und Schaukeln erleben sie die Vielfalt ihrer Bewegungsmöglichkeiten. Diese bilden die Voraussetzung für die Ausbildung von Lebensgewohnheiten, die dazu beitragen können, einem bewegungsarmen Alltag entgegenzuwirken. Damit wird auch den heute bereits im Kindesalter dramatisch zunehmenden Bewegungsmangelerkrankungen wie z.B. Übergewicht und Haltungsproblemen vorgebeugt.  

 

Mit anderen und voneinander lernen

Bei Bewegungsspielen lernen Kinder, mit anderen gemeinsam etwas zu tun, sie ahmen andere nach und sind ihnen Vorbild, sie spielen mit- und gegeneinander, geben nach und setzen sich durch, sie streiten und versöhnen sich wieder und machen damit wichtige soziale Erfahrungen (Zimmer 2020). 

In Bewegung können Kinder sich mit anderen vergleichen, sich miteinander messen, wetteifern und dabei lernen, mit Erfolg umzugehen aber auch Misserfolg zu verkraften.

Schon früh zeigt sich die Bedeutung der Spielpartner für die Entwicklung des Kindes. Soziale Fähigkeiten wie Rücksichtnahme, Toleranz, Einfühlungsvermögen, Verhalten bei Konfliktsituationen werden nur in Gruppen eingeübt, sie können sich erst dann entfalten, wenn mehrere Kinder zusammenspielen und in diesem Kontext erste soziale Erfahrungen machen. Dazu gehört z.B., die eigenen Wünsche auch einmal zugunsten der Bedürfnisse anderer zurückzustellen, die Perspektive eines anderen einzunehmen, nach gemeinsamen Regeln zu suchen. Selbst einfachste Spiele wie Fangen und Verstecken bieten hierfür Gelegenheiten und Kinder merken sehr schnell, dass die Spiele nur gelingen, wenn sich die Spielpartner aufeinander einstellen. 

 

Eigene Wege zur Problemlösung finden

Bewegungssituationen schaffen also vielfältige Lernanregungen, die die motorischen, aber auch die sozialen Kompetenzen der Kinder üben, die das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten stärken und ihre Problemlösefähigkeit herausfordern.

Wichtig ist dabei eine anregende Umgebung, die ihnen erlaubt, selbst aktiv zu werden, eigene Wege zu finden und dabei Fehler nicht als Irrwege, sondern als ganz normale Schritte zur Lösung eines Problems zu sehen.

Bewegungserlebnisse ermöglichen den Kindern die aktive Auseinandersetzung mit ihrer sozialen und materialen Umwelt. Sie suchen nach Grenzerfahrungen – wollen sich weiterentwickeln und Neues erproben. Auch wenn die Bewältigung von Herausforderungen anstrengend ist, verschafft ihnen dies doch die Chance, die eigenen Potenziale zu entdecken und weiter zu entfalten – ein wichtiges Entwicklungsthema in den ersten Lebensjahren.  

 

 

Literatur

Zimmer, R.(2019a). Handbuch Sinneswahrnehmung. Grundlagen einer ganzheitlichen Bildung und Erziehung. Freiburg: Herder 

Zimmer, R. (2019b). Handbuch Psychomotorik. Theorie und Praxis der psychomotorischen Förderung von Kindern. Freiburg: Herder

Zimmer, R. (2020). Handbuch Bewegungserziehung. Grundlagen für Ausbildung und pädagogische Praxis. Freiburg: Herder 

 

Autorin

Prof. Dr. phil. Renate Zimmer

Erziehungswissenschaftlerin mit dem Schwerpunkt Frühe Kindheit und Professorin für Sportwissenschaft an der Universität Osnabrück. Autorin vieler Fachbücher zu Themen wie Bewegungsförderung, Psychomotorik, Wahrnehmung, die in viele Sprachen übersetzt worden sind.  Gründerin der Initiative „Bewegte Kindheit“.

 

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