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12.10.2021

St. Maria als… Freiraum in der Stadt

Von Carolin Lahode und Sascha Bauer (Stadtlücken e.V.)

Photo
© Stadtlücken e.V.

„Wir haben eine Kirche – haben Sie eine Idee?” Mit dieser Frage startete im Mai 2017 ein offener Beteiligungsprozess in der katholischen Kirche St. Maria in Stuttgart. Besucher*innen, Bürger*innen und Kirchengemeinde wurden eingeladen, Ideen zu entwickeln, was die Kirche neben einem geweihten Gottesdienstraum noch alles sein konnte. 

 Im Kontext der Marienkirche haben in den vergangenen Jahren viele Veränderungen stattgefunden. Der Vorplatz und das direkte Umfeld wurden durch einen veränderten Stadtraum zu einem viel frequentierten Platz mit unterschiedlichen Nutzungen. Bereits in den Anfängen des offenen Beteiligungsprozesses dockte eine Mobilitätsschule an die Kirche an und brachte neue Aktivität im Außenraum mit sich. Täglich passieren viele Menschen die Kirche. 

Auch der Innenraum erfuhr zahlreiche Änderungen über die vergangenen Jahrzehnte seit der Kriegszerstörung und dem Wiederaufbau des Daches in den 1950er Jahren. Als in den 2010er Jahren allmählich der Verputz begann von der Decke auf die Kirchenbänke zu bröckeln, musste die Renovierung der Kirche in Angriff genommen werden. Die starren, hölzernen Kirchenbänke wurden entfernt und die dadurch entstandene Großzügigkeit erlaubte neue Visionen und Gedanken für den Innenraum. Die Kirche war längst zu groß für die Kirchengemeinde geworden und schon seit längerem wurden Überlegungen angestellt, welche alternativen Nutzungen den Kirchenraum weiter ausfüllen könnten. So lag der Gedanke nahe, mit der Sanierung auch diesen Prozess anzugehen. Die Kirche wurde zu einem zeitlich begrenzten und vielseitig nutzbaren Provisorium. 

 St. Maria ist die größte katholische Kirche in Stuttgart, die mitten im Zentrum an der Grenze der beiden Stadtbezirke Stuttgart Süd und Mitte liegt. An ihr vorbei führt die Tübinger Straße, die als neu eingeführte Fahrradstraße eine wichtige Entwicklungsachse markiert und zwei wichtige Punkte - die Stadtmitte und den Marienplatz - verbindet. Wie fast überall in Stuttgart sind vor allem in der Innenstadt freie Flächen rar. Kommerzialisierung und Privatisierung prägen auch hier die wenigen Freiräume im Stadtkessel. Daher war die Frage, wie sich der Kirchenraum der Marienkirche öffnen und als Begegnungs- und Bewegungsraum wieder mehr Teil des Stadtraums werden könnte, umso dringender.

Um die Stadtbevölkerung aktiv am offenen Beteiligungsprozess der Kirche teilhaben zu lassen, wurden ein spielerisch und niederschwellig gestalteter Zugang gewählt. Zunächst öffneten sich alle Türen rings um die Kirche als einladende Geste für neugierige Passant*innen. Ein großes Banner mit dem Schriftzug “St. Maria als”, dass an der Kirchenfront herabgelassen wurde, zeigte an: Hier ist etwas anders. Mithilfe übergroßer Buchstaben auf einsteckbaren Holzstäben, die auf dem Vorplatz der Kirche positioniert waren, konnte dieser Schriftzug mit einer Idee von Passant*innen und Interessierten vervollständigt werden. Im Kircheninneren schließlich rollten große weiße Sitzbälle über den provisorischen Holzboden. An den Seitenwänden zeigte eine kleine Ausstellung Impulse von Ideengeber*innen für den Raum, welche in den Umriss der Marienkirche in Plakatform aufgebracht werden konnten. Verschieden gestaltete Toolboxen zeigten alternative Nutzungen und räumliche Visionen für die Kirche. Auf dreieckigen Schemeln konnte man sich an den runden Holztisch in der Mitte des Raums setzen, diskutieren, Plakate und Karten bemalen und so die eigene Idee beitragen. Die Ausstellung und offene Ideenwerkstatt begleitete ein zweiwöchiges Veranstaltungsprogramm und diverse Alternativnutzungen konnten direkt im Kirchenraum ausgetestet werden. 

Der Verein Stadtlücken e.V. konzipierte einen offenen Beteiligungsprozess mit allen Zutaten zur aktiven Teilhabe: ein Konzept für eine Ausstellung, den eigentlichen Partizipationsprozess, kleine Kunstaktionen vor der Kirche, raumprägende hohe Ausstellungswände, einen flexiblen zwölfteiligen runden Tisch, St. Maria Hocker, einen Web-, Facebook- und Instagram-Auftritt und vor allem ein prägnantes aber unaufdringliches Kommunikationsdesign. 

Jedes zusätzliche Element hatte seine wohlüberlegte und präzise Ausformulierung. Die einzelnen Segmente des Tischs erlaubten es beispielsweise, ihn ebenso flexibel im Raum für verschiedene Veranstaltungen einzusetzen. Und so schwangen an den Abenden Paare im Tangotakt durch die Weite des Kircheninnenraums, brachten elektronische Klänge den Raum zum Vibrieren, bespielten Lichtinstallationen die Wände mit atmosphärischen Mustern und schwatzten Menschen beim gemeinsamen Essen an der langen Tafel. In einer Kooperation mit einem lokalen Sportverein gastierte an einem Nachmittag sogar ein Wettkampf-Trampolin samt Jugendmannschaft, um zeitweise auch die dritte Dimension des Raumes zu erobern. 

Die Veranstaltungen ließen den gewohnten Kirchenraum in neuem Licht erleben. Durch die offenstehenden Türen trauten sich Interessierte in den Innenraum, die sonst von der Verschlossenheit abgeschreckt wurden. Die neue Atmosphäre ließ auch die Gemeindemitglieder ihre Kirche und den sich verändernden Kirchenraum neu entdecken. 

Das offene Konzept im Zuge der Öffnung der Kirche und einem ernst gemeinten Beteiligungsprozess mit Aktivierung bestärkte alle Beteiligten für eine Weiterentwicklung dieser einzigartigen Innenstadtkirche. Die positive Resonanz zu vielfältigen Veranstaltungen in der Erprobungsphase mündete in eine Fortführung dieser besonderen Atmosphäre und der gemeinschaftlichen flexiblen Nutzung des Raums in Symbiose mit einem geweihtem Kirchenraum. 

Und damit gilt weiterhin St. Maria als… Theater, Wetterschutz, Café, Installation, Sehenswürdigkeit, Stammtisch, Werkstatt, Club, Aussichtspunkt, Marktplatz, Plattform, Raum, Halle, Erinnerung, Treffpunkt, Bewegungsraum, und vieles mehr...

 

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