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Internationales Fachmagazin für Spiel-, Sport- und Freizeitanlagen

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28.12.2010 - Ausgabe: 6/2010

Bewegte Kinder - schlaue Köpfe: Auf die Freiräume kommt es an

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Bewegte Schule hat die Aufgabe, ganzheitliches Lernen zu fördern, Schulleben zu gestalten und Schulentwicklung zu unterstützen. Die Umsetzung erfolgt in den drei zentralen Handlungsfeldern Unterrichtsqualität, Schule steuern und organisieren und Lern- und Lebensraum Schule. Besonders das letztgenannte ist von hoher Bedeutung für den Schulalltag. Es geht im Wesentlichen darum durch den verstärkten Einbezug von Bewegung und Spiel den Schulalltag gesundheits- und lernfördernd zu rhythmisieren. Dies ist mit Blick auf die zunehmende Verweildauer der Schülerinnen und Schüler im Ganztagsschulbetrieb von hoher Bedeutung. Mehr Bewegung und Spiel sollen insgesamt zur Aufenthaltsqualität in der Schule, zu einem besseren Schulklima, zur Reduzierung von Unfällen, zu weniger Vandalismus und zur Abnahme von aggressiven Handlungen führen. Schule entwickelt sich immer mehr von der reinen „Belehranstalt“ zu einer „die Menschen bewegenden“ Einrichtung, in der Lernen und Leben ganzheitlich aufeinander bezogen sind. Die Devise moderner Pädagogik lautet: Kompetenzerwerb statt Wissensmehrung. Der Kompetenzerwerb gelingt am besten durch eigenständiges, forschendes Lernen, durch erprobendes Handeln. Dem Lernen durch Versuch und Irrtum wird hohe Priorität eingeräumt. Diese zukunftsweisende pädagogische Ausrichtung wertet die Freiräume in ihrer Bedeutung als Lern- und Entwicklungsräume auf und bestätigt die noch immer unterschätzte Wirkung des Raums als „dritter Pädagoge“. Schließlich entscheidet sich in Abhängigkeit vom pädagogischen, motorischen und ästhetischen Anforderungsprofil schulischer Außenräume, ob die Schülerinnen und Schüler ausreichende Entwicklungsimpulse bekommen und den Freiraum aktiv in ihr Schulleben mit einbeziehen.

Das Anforderungsprofil schulischer Freiräume - wie beurteilen?

Natürlich ist die Gestaltung von schulischen Freiräumen schulstufenabhängig, weil die motorischen Anforderungen, die Spiel- und Rückzugsbedürfnisse der Schülerrinnen und Schüler altersangemessen variieren. Generell lassen sich jedoch zentrale Kriterien formulieren, wenn es um den Spielwert, die Aufenthaltsqualität und den motorischen Anspruch geht: Der Spielwert erschließt sich über den Grad des Anreizes zur Eigentätigkeit; die Differenzierung der Herausforderungen; den möglichen Grad der kreativen Auseinandersetzung; die Gestaltungs- und Veränderungsmöglichkeit; die Jungen- und Mädchenbeteiligung; der Möglichkeit sich allein, in Klein- und Großgruppen zu treffen oder zu spielen; die Partizipation im Planungs- und Herstellungsprozess und die Intensität des Aufforderungscharakter.
Die Aufenthaltsqualität ist zu fassen in der naturnahen Gestaltung des Freiraums; dem altersgerechten Bezug zu den Elementen Feuer, Erde, Wasser, Luft; der ästhetischen Gestaltung; im Vorhandensein von Rückzugs- und Aktivitätsbereichen; der Sicherheit von Verhältnissen und den Gestaltungsmöglichkeiten durch Schüler.
Das Anforderungsprofil ist zu bestimmen über die Anreize zur Bildung von Selbstsicherungsfähigkeit; die Differenzierung der Herausforderungen mit Erfolgschancen; die sinnesaktive Ausrichtung; die materiale, körper- und soziale Erfahrungsmöglichkeit; die angesprochenen motorischen Grundtätigkeiten; die Stimulierung von koordinativen Fähigkeiten; über den altersangemessen Einbezug von aktuellen Bewegungstrends, den Verzicht von übersichernden Maßnahmen und die Vermeidung von Unterforderung.

Unterforderung als Motivationskiller

Viele Geräte halten nicht, was sie versprechen. Klettergeräte sind oft nur Steiggeräte, Balanciergeräte provozieren selten dynamisches Gleichgewicht. Nicht selten sind Schulhöfe lediglich möbliert – eine Ansammlung von gängigen, oft „unkaputtbaren“ Geräten mit geringem Spielwert, scheinbar sicher, „damit bloß nichts passiert“.
Unterfordernd gestaltete schulische Außenflächen führen zu Passivität, zu einem Anstieg von aggressiven Handlungen und sie begünstigen Vandalismus. Die Praxis belegt, was Studien nachweisen: Bei Unterforderung steigt die Unfallhäufigkeit. Die Erklärung ist einfach: Die mentalen Selbstsicherungsmechanismen der Schülerinnen und Schüler sind nicht in vollem Umfang angesprochen. Die meisten Unfälle passieren beim Gehen und Laufen auf ebener Fläche, in vermeintlich harmlosen Situationen.
Ganz anders bei Anforderungen: Die Selbstsicherungsmechanismen sind aktiviert, alle Fähigkeiten, Fertigkeiten und Sinne sind angesprochen, damit die Bewegungsherausforderung ohne Verletzung gelingt. Die Kinder lernen dabei, ihre Grenzen und Möglichkeiten realistisch einzuschätzen und sich somit selbstsichernd im Umgang mit Risiko und Wagnis zu verhalten.
Weitsichtige Träger der gesetzlichen Schülerunfallversicherung setzen in ihren Programmen zur Unfallreduzierung zunehmend auf Verhaltensprävention, denn sie wissen, dass weniger als 15% der Unfälle auf unzureichende Verhältnisse, aber ca. 85% auf Verhalten (Bewegungsunsicherheiten oder Fehleinschätzungen) zurückzuführen sind. Sie überwinden damit die traditionelle Orientierung an der Verhältnisprävention, die eher durch übersichernde Verhältnisse dafür sorgte, dass Schüler die Klärung der Risikofrage den zuständigen Erwachsenen überließen statt ihre eigenen Selbstsicherungskompetenzen zu mobilisieren.
Die anforderungsreiche Gestaltung von schulischen Freiräumen trägt dazu bei, das motorische und soziale Verhaltensrepertoire der Kinder kontinuierlich weiter zu entwickeln und Selbstsicherungskompetenz auszubilden. Dies müssen wir in der Schule sicherstellen. So ist die Ausbildung der Selbstsicherungskompetenz in den Kerncurricula Sport für alle Schulformen von den Kultusministerien verbindlich vorgeschrieben.

Beispiel: Fridtjof-Nansen-Schule –FNS- (Grundschule) Hannover

Die FNS mit 330 Schülerinnen und Schülern aus 27 Nationen liegt in Hannover Vahrenheide-Ost. Diese monostrukturierte Großsiedlung aus den 60er und 70er Jahren ist seit 1997 als Sanierungsgebiet ausgewiesen. Mehrgeschossbebauung, überdimensionierte Straßenräume und große Grünbereiche mit geringen Aufenthaltsqualitäten bestimmen den 82 Hektar großen Stadtteil. Das 16.000 qm umfassende Schulgelände –mitten im Stadtteil- spiegelte 2000 noch die gleiche Unwirtlichkeit wieder, die dem Stadtteil als soziales Brennpunktgebiet abzulesen ist. Der Bestand der Freiflächen befand sich vor der Umgestaltung ab 2000 in dem für Schulen üblichen anregungsarmen Zustand mit weiten monotonen Rasenflächen, Gebüschpflanzen, Laufbahn und Sprunggrube. Erschwerend kommt hinzu, dass das Schulgebäude aus den 60er Jahren unter Denkmalschutz gestellt worden ist.

Freiraumkonzept der FNS

Auf dem langen Weg vom „Leerraum“ zum Lebens- und Lernraum Schule gab es die Zielsetzungen:

- den Schülerinnen und Schülern durch die anforderungsreiche Gestaltung des Freiraums Handlungsräume zu eröffnen, in denen entwicklungsfördernde Lebens-, Lern- und Bewegungsbedingungen dominieren;
- den Freiraum als Schnittstelle zwischen Stadtteil und Schule anzubieten;
- die Identifikation mit dem schulischen Freiraum mit allen Nutzern zu entwickeln, damit Nachhaltigkeit sowohl für den Stadtteil als auch für die Schule gesichert wird;
- den Freiraum als unmittelbaren Lern- und Erfahrungsort zur Naturbegegnung- und auseinandersetzung auszubilden;
- die Selbstsicherungskompetenz von Schülern durch bewegungsorientierte Herausforderungen zu fordern und zu fördern;
- die Bewegungsbedürfnisse der Schüler aufzugreifen und die motorischen Anforderungen altersgerecht zu gestalten;
- die bewegungsfördernden Angebote des Freiraums offensiv in den Rhythmus des Schulalltages einzubeziehen und durch „Bewegungsverführungen“ in Innen- und Außenbereichen eine höhere motorische Aktivität (Alltagsmotorik) zu erreichen.

Leitidee für die interdisziplinäre Planungsgruppe zusammengesetzt aus Freiraumplaner/Innen und Pädagogen/Innen war die Erwartung, dass die pädagogische Idee der bewegten Schule FNS im Freiraum ablesbar sein sollte.
Die Qualität des Freiraums wird seit 2000 in der FNS im Schulprogramm im Schwerpunkt „Schule als Lern- und Lebensraum gestalten“ kontinuierlich an den Zielen der Schule entwickelt.


Der aktuelle Stand des Freiraumkonzeptes:
Seilparcours (Fa. Corocord)
Sechseckschaukel / Kontaktschaukel (Fa. Spielgeräte Richter)
Freilichtforum: Gestaltung Fa. Wendland, Jatzkowski, Schramm
Hangelpfad (Fa. Wehrfritz)
Hangrutsche
Rundreck (Fa. Kaiser und Kühne)
Mutspirale (Fa. Wehrfritz)
Kletterstruktur (Fa. Richter)
Balancierstein (Fa. Köhnken)
Stangengestrüpp (Fa. Richter)
Wildzone: Planung / Bauleitung Fa. Wendland
Oase: Planung / Bauleitung Fa. Wendland, Jatzkowski, Schramm
Asphalthof: a) Fußball (Erstellung 2007), b) Basketball (Erstellung 2007), c) Bewegen auf Rollen (Inliner, Roller, Fahrräder, Einräder, Skateboards, Pedalos )
Lehrer / Innenhof : Planung / Bauleitung Fa. Wendland, Schramm, Jatzkowsky. Ruhebetonter eigener Raum (kein Zugang für Kinder) für Rückzug, Erholung und Kontemplation des Lehrerkollegiums mit schönen, ästhetisch aufbauenden Anblicken von Stauden und Natursteinen. Wenn es den Lehrkräften gut geht, haben auch ihre Schüler etwas davon.
Hügelstrukturen: Planung / Bauleitung Fa. Wendland
Wasserläufe und Wassermulden: s.o.
Balancierklötze (Fa. Richter)

Fazit

Mehr Anforderungsprofil und Aufenthaltsqualität in schulische Freiräume bringen.

Die vorliegende Planung hat die pädagogische Idee, Schüler durch das vielseitige Angebot immer wieder zu Bewegung und Spiel zu motivieren. In der Auseinandersetzung mit dieser stimulierenden Umwelt erwerben sie wie nebenbei soziale, motorische und kognitive Kompetenzen. Besonders in dem von den Geräten geforderten Umgang mit Risiko und Wagnis bringen wir sie dazu, mit ihren Grenzen zu spielen und ihre Selbstsicherungsfähigkeit auszubilden. Der Freiraum wird so zum Lebens- und Lernraum mit hohem Effekt.
Die geringen Unfallzahlen an unserer Schule bestätigen die These, dass bei anforderungsreicher Gestaltung die mentalen Selbstsicherungsmechanismen der Schüler mobilisiert werden. Der GUV Hannover hat zudem ermittelt, dass die Verletzungsschwere deutlich geringer ist als bei Schulen mit unterfordernden Freiräumen. Nur drei Aufsicht führende Lehrkräfte, aufgestellt in den Schnittpunkten der Sichtachsen sorgen dafür, dass sich die Schüler beaufsichtigt fühlen und sie bei Problemen ansprechen können.
Zur intensiven Nutzung der Freiräume ist es nötig, den Schulalltag mit ausreichend langen Pausen zu rhythmisieren, damit angemessene Spielphasen mit pädagogischer Qualität für die Schüler entstehen. Zwei große Pausen von 30 Minuten haben sich bei uns als optimale Lösung bewährt. Pausen unter 20 Minuten lassen unserer Erfahrung nach keine aktive Nutzung des Freiraums zu.
Auch in der 15-minütigen Gleitzeit zu Schulbeginn, in Vertretungsstunden oder in Phasen, in denen im Unterricht die Konzentration verbraucht ist, bietet der Freiraum einen hohen Erholungs- und Spielwert und bildet einen gesundheitsfördernden Kontrast zur sitzenden Tätigkeit im Klassenraum. Schließlich haben aggressive Handlungen durch die intensive Nutzung abgenommen. Herausforderungsreiche Geräte binden offensichtlich sinnlose, destruktive Handlungen. So ist Vandalismus kein Problem in unserer Schule.
Die schulpolitische Entwicklung wird in den nächsten Jahren bundesweit in großem Umfang für die Umwandlung von Halbtagsschulen in Ganztagsschulen sorgen. Die Schüler sind somit ganztägig in der Schule und brauchen neue Freiräume mit hoher Aufenthaltsqualität und anforderungsreichen Lerngelegenheiten, damit sie die beschriebene Wirkung des Raums als dritter Pädagoge täglich erfahren können.


Hermann Städtler, Schulleiter und Leiter des Kultusministeriumsprojekts
„Bewegte, gesunde Schule Niedersachsen“ / TM
Fotos: Hermann Städtler


Literatur:
Insa Abeling / Hermann Städtler: Bewegte Schule-mehr Bewegung in die Köpfe in: Die Gundschulzeitschrift 3/2008, Seelze Friedrich Verlag

 

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