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Internationales Fachmagazin für Spiel-, Sport- und Freizeitanlagen

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15.02.2011 - Ausgabe: 1/2011

Bewegung ist nicht gleich Bewegung

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Kinder brauchen (Bewegungs-) Aufgaben an denen sie wachsen können.

Bewegung ist mehr als Sport. Der Begriff Bewegung wird in klassischer Weise mit Sport und mit körperlicher Fitness in Verbindung gebracht. Bewegung ist aber mehr als Sport, Leistung, Wettkampf, Regeln, Sieg oder Niederlage, Kalorien- und Fettverbrauch oder Muskelzuwachs. Eine erweiterte Sicht bezieht die Alltagsmotorik sowie die komplexen, teils unbewussten körperlichen Aktivitäten und ihre Wechselwirkung mit kognitiven sowie sozial-emotionalen Funktionen mit ein. Bewegung ist vor allem für Kinder eine entscheidende Ressource, die sie freudvoll, selbstbestimmt und kompetent einsetzen, um ihre Entwicklung voranzutreiben (Fischer 2008). Ein derart verstandener Bewegungsbegriff ist immer ganzheitlich ausgerichtet und somit als Mensch-Welt-Beziehung im Sinne einer Dialoggestaltung aufzufassen (Dietrich 2003). Jede Bewegungshandlung ist für Kinder ein „Bedeutungsgewinn und hinterlässt Spuren, die wir fachlich als Kompetenzen bezeichnen“ (Fischer (2008, 174). Insbesondere aus dieser Blickrichtung heraus gewinnt der Stellenwert der Bewegung für Bildung und Entwicklung unserer Kinder einen immer größeren Stellenwert.

„Körper, Gehirn und Geist bilden eine dynamische Einheit. Erzieher und Lehrer müssen mit dieser Komplexität pädagogisch umgehen lernen, indem sie sich auf das aktive ganzheitliche Sein des Kindes einlassen, um ihm zu helfen, sich weiterzuentwickeln . . .“ (Arnold 2006, 157)

Auf die ersten Jahre kommt es an

Die natürliche Anlage der Kinder zum „neugiergesteuerten“ Handeln basiert auf dem Bedürfnis, ihre Umwelt aktiv zu erkunden. In keinem anderen Lebensabschnitt, wie dem des Vorschul- und Grundschulalters, kommt den komplexen körperlichen Aktivitäten der Kinder eine solch grundlegende Bedeutung zu. Diese finden üblicherweise darin ihre Realisierung, wenn Kinder ihr spontanes Bedürfnis nach klettern, balancieren, springen, werfen, schwingen, laufen, hüpfen, hängen und hangeln mit Lust sowie in herausfordernden Situationen entfalten können. Die speziell in diesem Altersabschnitt hohe Plastizität (Form und Anpassungsfähigkeit) des heranwachsenden Gehirns - Schaltzentrale all unserer Handlungen und Zentrum unseres Fühlens und Denkens - ist permanent auf komplexe neuronale Stimuli angewiesen. Gehirnentwicklung ist Selbstkonstruktion auf der Grundlage einer motivierenden und zielgerichteten interaktiven Auseinandersetzung der Kinder mit einer anregungsreichen Umwelt, die sie komplex herausfordert. Wichtige Voraussetzung: Weder übervorsichtige Erwachsene noch übersichernde und unterfordernden Angebote sollten ihr exploratives Tun einengen.
Vor diesem Hintergrund ist es umso bedeutender, dass die häufig „künstlich“ und sicher geschaffenen Bewegungswelten in Kindergärten, Schulen oder Vereinen den besonderen Entwicklungsbedingungen, das heißt der komplexen Wechselwirkung von Bewegung, Kognition und sozial-emotionaler Kompetenz der Kinder zielgerichteter entsprechen. Konkret bedeutet dies:

  • Das Bedürfnis, selbst zu planen und zu gestalten, muss durch offene, die Selbsttätigkeit und Kreativität der Kinder ansprechende Bedingungen angeregt werden.
  • Den unterschiedlichen Leistungsvoraussetzungen muss durch eine Differenzierung der Herausforderungen und der Bereitschaft überschaubare Risiken einzugehen entsprochen werden.
  • Risikokompetenz muss durch eigene Wagniserfahrungen in grenzwertigen Situationen ausgebildet werden.
  • Selbstvertrauen und Selbstsicherungsfähigkeit muss dadurch gefördert werden, dass das Kind lernt, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen.
  • Soziales Lernen muss durch Aufgabenlösungen die gemeinsames und koordiniertes Handeln und Planen erfordern angeregt werden.

Entwicklung erfolgt hauptsächlich über die Eigenaktivität des Kindes. Da Kinder heute ihre Bewegungsfreizeit ganz selten selbst organisieren können, übt der Pädagoge, laut Fischer (2008, 175), mit seiner eigenen Haltung und seiner methodischen Planung einen wesentlichen Einfluss auf die Qualität der Entwicklung aus. „Im Vordergrund steht die Bewegungsaufgabe, das motivierende Bewegungsproblem, dem sich das Kind mit allen Sinnen geistesgegenwärtig stellt“. Der Pädagoge regt zum „Nachforschen und Herausspüren“ (Landau 2003, 57) an, er fungiert nicht „belehrend sondern begleitend“ (Fischer 2008,175). Er hat die Rolle, „die Umgebung des Kindes aktiv zu gestalten, sodass entsprechende Lernergebnisse, positive Erfahrungen möglich werden“ (Spitzer 2008,11). Ganz wichtig hierbei ist der offene Raum für Versuche, Experimente, Wagnisse und auch Fehler. Lernen ist immer emotional besetzt. Größten Erfolg sichern positive Emotionen aus erfolgreichen Problem und Aufgabenbewältigungen. Dadurch erfahren Kinder sehr viel über eigene Grenzen und gewinnen ein immer konkreteres Bild von ihrer eigenen Leistungsfähigkeit.

„Besonders entwicklungsfördernd“

Die eigenen, durch Körper und Umwelt gesetzten Grenzen auszuloten und zu erkennen und zu überwinden, ohne sich gefährlichen oder waghalsigen Situationen auszusetzen, ist ein immer konkretes Bedürfnis jedes Heranwachsenden. Kinder haben das Verlangen, ihren Körper zu beherrschen, Fähigkeiten und Fertigkeiten zu erwerben, die Geschicklichkeit zu entwickeln und Wagnisse einzugehen. Im Fokus steht die Bewegungsaufgabe, das motivierende Bewegungsproblem, dem sich das Kind in freudiger aber auch gleichzeitig spannungsgeladener Erwartung mit all seinen Sinnen stellt. (Fischer 2008). Leider gehen diese Erkenntnisse häufig nicht konform dem Überangebot an Produkten und Konzepten zur Spiel- und Bewegungsförderung. Ein Großteil der Angebote suggeriert dem Verbraucher ein höchstes Maß an Wirksamkeit, ohne diesen Anspruch auch immer verlässlich einzuhalten. Kindergärten, Schulen, Elternhaus und Kommunen sind angesichts dieser unübersichtlichen Angebotspalette partiell überfordert, die aus ihrer pädagogischen Verantwortung gebotene Entscheidung zu treffen. Darüber hinaus sind für den Kunden häufig keine objektiv nachvollziehbaren Qualitätskriterien sowie deren pädagogische Wertigkeit erkennbar. Da Entscheidungen für wert- und nachhaltige Anschaffungen dem Verbraucher nicht immer leicht fallen, soll das neu geschaffene Qualitätssiegel eine Orientierungshilfe geben. Das Qualitätssiegel zeichnet Produkte, Initiativen und Konzepte (Innenraum- und Freiraumkonzepte) aus, welche Kinder in ihrem grundlegenden Spiel-, Bewegungs- und Erkundungsdrang in vielfältigen, anregenden und herausfordernden Situationen nachhaltig unterstützen. Seit 2008 sind bereits mehrere Produkte / Initiativen / Konzepte ausgezeichnet worden. (www.besondersentwicklungsfoerdernd.de).

Der Seilparkour: Abenteuer für Kopf und Körper

Zu den „besonders entwicklungsfördernden“ Produkten gehört auch der „Seilparkour“ der Firma Corocord aus Berlin. Die Idee des „Seilparkour“ basiert auf der aus Frankreich stammenden, urbanen Trendsportart „Parkour“. „Parkour“ ist eine elegante Mischung aus Sprung, Lauf und Salto, über alle Hindernisse hinweg, wie sie im öffentlichen Raum anzutreffen sind. An die Stelle von Betonwänden und Stahlgeländern treten bei Corocord jedoch innovative Strukturen aus 19 Millimeter starken Seilen und anderen Elementen wie Membranen, Holz- und Aluminiumprofilen. Der „Seilparkour“ besteht aus insgesamt neun Elementen. Die einzelnen Elemente sind jeweils sechs Meter lang und können zu verschiedenen Bewegungslandschaften kombiniert werden.
Die auf dem individuellen Könnensniveau selbstgewählten Routen zu bewältigen, erfordert den Einsatz des ganzen Körpers. Die Muskulatur so kraftvoll und koordiniert einzusetzen, dass Situationen zum Teil nur mit dem Griff der Hände und bei begrenztem Stand der Füße bewältigt werden, fördert das Vertrauen in das eigene Können und hat für die ganzheitliche Entwicklung des Kindes nachhaltige Konsequenzen.

Im „Seilparkour“ sind je nach Bewältigungsstrategie die jeweiligen motorischen Grundeigenschaften sowie psychische Stärke wie Mut, Willenskraft, Selbstvertrauen, Selbstsicherungsfähigkeit, Konzentration und Entschlossenheit sowie gezielte, abgestimmte Handlungen mit Anderen gefragt. Dies erfordert nicht nur wichtige physische Kompetenzen sondern benötigt darüber hinaus auch sehr viele kognitive Fähigkeiten wie

  • komplexe Anforderungen bewältigen - Problemlösungskompetenz
  • vorausschauend denken, handeln - strategische Kompetenz
  • gezielte, abgestimmte Handlungen planen - Planungskompetenz

„Das Fehlen solcher metakognitiver Kompetenzen stellt einen Risikofaktor für die kognitive Entwicklung dar und zeigt nicht selten Auswirkungen auf schulische Lernprozesse“ (Fischer 2008, 177).

Ganzheitliche Erlebnis- und Erfahrungsbereiche im „Seilparkour“

Je nach Situation oder Aufgabenstellung lässt der „Seilparkour“ vielfältige Zugangsmöglichkeiten bzw. unterschiedliche Interpretationen für Pädagogen und Kinder zu. Im Zentrum vieler Bewegungshandlungen steht das Ringen um Balance im Spiel der körperlichen und psychischen Kräfte. Bei der Bewältigung des „Seilparkour“ hat die Suche nach dem Gleichgewicht überall Priorität und ist durch scheinbare Gegensätzlichkeit gekennzeichnet: Zweckorientierte Bewegungstechniken und spielerische Handlungen, Anspannung und Entspannung, Risiko und Sicherheit, Ichbezogenheit und Sozialbezug, positive und negative Gefühle.

Für den psycho-physischen Bereich erlangen die Sensationsgefühle und die persönliche Bewältigung von Grenzsituationen eine besondere Bedeutung. Sich innerhalb des „Seilparkour“ motivierenden Bewegungsproblemen (Wagnis-Risiko-Situationen) auszusetzen, bei denen man im Falle eines Fehltrittes oder einer falsch gewählten Bewegungshandlung die Kontrolle über seine Position verlieren kann, beinhaltet das Erleben wechselhafter emotionaler Spannungszustände wie Unsicherheit-Sicherheit, Freude-Angst. Kinder lernen ihre Möglichkeiten und Grenzen einzuschätzen und mit Wagnis- und Risikosituationen optimal umzugehen.

Der Erfolg beim Gelingen einer schwierigen Bewegungshandlung wirkt motivierend. Er ruft nach Wiederholung und nach neuem kalkuliertem Risiko. Wenn die selbst gewählten Risiken möglichst unbeeinflusst von außen überwunden werden, gewinnt das Kind an Selbstvertrauen und Selbstsicherungsfähigkeit. Übertriebenes Sicherheitsbedürfnis von Erwachsenen bremst das spontane Handeln des Kindes und damit wichtige Entwicklungsprozesse unnötig aus.

Dem sozial-kommunikativen Bereich kommt in der Bewegungsauseinandersetzung mit dem „Seilparkour“, vor allem bei gezielten Partner- oder Gruppenaufgaben, eine besondere Qualität zu. Wer gemeinsam mit anderen den „Seilparkour“ begeht, entwickelt soziale Handlungsweisen wie Mitverantwortung, Kooperation und Einfühlungsvermögen. Kooperieren kann geübt werden: beim Führen und Folgen, beim Helfen und Sichern, beim Gestalten von Bewegungen in Gruppen. Seinen Partner "anfeuernd" zu ermutigen, gemeinsam die Schlüsselstellen einer Route zu bewältigen, sich gegenseitig Bewegungsalternativen aufzuzeigen oder nach einer gemeinsam gestellten und auch gelungenen Bewältigung einer Route sich miteinander zu freuen sind charakteristische Beispiele dafür.

Darüber hinaus kann es durchaus auch zu Gesprächen kommen, die sicherheitstechnische Aspekte sowie den Umgang mit Wagnis und Risiko beinhalten. Gelingt es, im gemeinsamen Erfahrungs- und Meinungsaustausch eine Verstehensgrundlage zu schaffen, können Interaktions- und Sachprobleme besser beurteilt, kann beziehungs- und sachkompetentes Handeln entwickelt und Verständigung gefördert werden.
Der „Seilparkour“ mit seinen vielseitigen motorischen als auch psycho-sozialen Herausforderungen kann somit auch seinen Teilbeitrag leisten, Kinder und Jugendliche insbesondere zur Mündigkeit im Umgang mit sich selbst und mit der Welt hinzuführen.


Literatur beim Verfasser
Fotos: photocase, Fotograf: 3format

D. Breithecker
 

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