Stadt fair teilen - was kann Planung beitragen?
Unsere Städte sind über Jahrhunderte gewachsen, darin spiegelt sich auch die Geschichte der städtischen Gesellschaft, wer hatte das Sagen, für wen waren welche Berufe zugänglich. Stadt ist ein...
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In Griesheim, einer Stadt mit 26.000 Einwohnern in Südhessen, ist das jetzt anders. Freiraum wurde den Kindern zurückgegeben - eine Rückeroberung des öffentlichen Raumes. Griesheim wurde zur ersten bespielbaren Stadt in Deutschland.
„Die kommunale Krise spielt in Griesheim keine Rolle, weil wir kreative und pfiffige Finanzierungen einsetzen, wenn wir von etwas überzeugt sind.“ Bürgermeister Norbert Leber war von Anfang an von der bespielbaren Stadt überzeugt. Angefangen hat alles in der jährlichen Kindersprechstunde des Bürgermeisters. Schulkinder äußerten ihren Unmut über die langweiligen Schulwege. Um die 26.000 Einwohner-Gemeinde kindgerechter zu machen, reagierte die Stadt sofort. Es wurde Bernhard Meyer, - selbst Griesheimer und Großvater – damit beauftragt, die Lebenswelten der Griesheimer Kinder zu erforschen. Prof. Bernhard Meyer (63) arbeitet seit 1978 an der Ev. Fachhochschule in Darmstadt im Fachbereich Sozialarbeit/Sozialpädagogik. Gemeinsam mit dem Pädagogen gingen die Kinder ihre Wege zur Schule, zum Sportplatz, zum Musikunterricht ab. Aufgrund dieser Ergebnisse entwickelte der Professor ein Praxisforschungsprojekt, dessen Ziel es war, den öffentlichen Raum für Kinder zurückzuerobern. In der südhessischen Stadt Griesheim fand er eine aufgeschlossene Gemeinde. Bürgermeister, Verwaltung und Schulleitungen unterstützten den weiteren Prozess. „Kindern muss man Lust machen, sich auf den Weg zu machen. Wichtig dabei ist, Motivationspunkte für Kinder zu schaffen. Und die Stadt muss den Willen haben, sich für „Spielraum für Spielräume“ einzusetzen“, so Meyer.
Zunächst markierten die Schulkinder mit Kreide ihren Schulweg. In einer Fragebogenaktion wurde sichtbar, welche anderen Orte für Kinder noch wichtig sind (wie zum Beispiel der Sportplatz und der Einkaufsmarkt) und wie sie dorthin kommen. Am Ende konnten alle in einer Stadtkarte sehen, wie das Kinderwegenetz aussieht. Nun untersuchte der Wissenschaftler alle entsprechenden Straßen, ob sich dort noch freie Flächen fanden. Meyer: „Es war überraschend, weil es mehr als einhundert Möglichkeiten waren.“
„Wenn auf dem Weg Spielgeräte wären, dann würde das viel mehr Spaß machen. Man könnte einfach mal Pause machen“, sagte ein Kind aus Griesheim. Und die Kinderwünsche wurden realisiert: Nach Prüfung durch das Ordnungs- und Liegenschaftsamt blieben 101 Flächen in reinen Wohnvierteln sowie an Hauptverkehrsstraßen übrig. Hier wurden mitten auf den Gehwegen Spielobjekte installiert: Klettergerüste, Balancierbalken, Drehscheiben, Kugeln zum Bockhüpfen, Hüpfkästchen, ein Surfbrett zum Schaukeln, Stangen zum Dranhängen, ein Kaleidoskop, eine Sandbildscheibe, Baumstämme, Findlinge. Am 11. September 2010 wurde die 111. und damit letzte dieser Installationen aufgebaut. „Durch die 100 Spielobjekte werden jetzt auch die Zwischenräume zwischen den Spielplätzen interessant, und die Kinder können sich durch Griesheim hindurch spielen", so Meyer. Zusätzlich zu den 25 Spielplätzen gibt es nun weitere 101 Spielobjekte, die an den Kinderwegen einladen, sich wieder auf die Socken zu machen. Die eigentliche Herausforderung lautet nun: sich nicht beim Spielen zu vertrödeln und zu spät zum Unterricht zu kommen.
Die Spielplatzgeräte sind von den Unternehmen Conlastic, Spielgeräte Richter und Kompan hergestellt. „Die bespielbare Stadt Griesheim haben wir mit einigen unserer Geräte ausgestattet. Wir sind glücklich, Teil dieses Projektes zu sein, da es sich um eine einmalige Lösung mit Vorbildcharakter handelt. Griesheim ist ein relevantes Beispiel für Freiräume in einer dicht besiedelten Struktur und trägt dazu bei, Familien an die Stadt zu binden. Hier werden die Interessen der Kinder ernst genommen und das Spielen im öffentlichen Raum zur Selbstverständlichkeit“, sagt Marret Johannsen, Kompan GmbH.
An die Sicherheit der Kinder hat Bernhard Meyer bei seinem Konzept auch gedacht. Die Überwege zu den Straßen sind durch den „Kleinen Griesheimer“ gekennzeichnet, eine Erfindung des Professors. Die viereckigen Platten mit der gelben Figur geben keine Vorrechte im Straßenverkehr, aber Hinweise darauf, wo man am günstigsten die Straße überquert. Ergänzt wird dieses Konzept durch „Spielstraße auf Zeit“. Hier verändern sich verschiedene Griesheimer Straßen für jeweils einen Nachmittag zu einer echten Spielstraße, einer Straße ohne Autos.
Karin Hofmann vom Sozialamt der Stadt hat beobachtet, dass auch 15-jährige sich rückwärts auf eine dicke Halbkugel legen, um den Rücken zu dehnen. Und sie berichtet weiterhin, dass noch keines der Objekte dem Vandalismus zum Opfer gefallen ist.
Natürlich gab es auch Unmut vonseiten einiger Anwohner. Viele wollten kein Spielgerät direkt vor ihrem Wohnzimmerfenster haben, manche fürchteten Kinderlärm oder dass die Objekte abends von Jugendlichen genutzt würden. Doch die Kritiker konnten überzeugt werden. Bürgermeister Leber: „In Griesheim sind nicht kurzfristige Show‐Effekte für Politiker gefragt, sondern der dauernde Einsatz des gesunden Menschenverstandes zugunsten unserer Kinder.“
Professor Bernhard Meyer lobt die Konsequenz, mit der dieses Ziel verfolgt wurde: „in nur drei Jahren hat Griesheim etwas geschafft, was jede deutsche Stadt verwirklichen kann. Das Wissen dazu liegt in der Fachliteratur vor“.
Die bespielbare Stadt kostete letztendlich 104.000,00 Euro. 16.000,00 Euro davon stammen aus Steuergeldern. Der Rest wurde gesponsert, unter anderem von der Flughafen Stiftung (Rhein Main) und der Sparkassen Stiftung.
Die beSITZbare Stadt
„Wir haben die Bespielbare Stadt umgesetzt, weil aus Kinderorten Inseln wurden, die zunehmend mit dem Elterntaxi erreicht wurden. Jetzt kann man sich wieder durch die ganze Stadt zu Fuß hindurchspielen. Wir werden die besitzbare Stadt realisieren, weil es Fußgänger gibt, die nach einer kurzen Strecke bereits eine Möglichkeit brauchen, neue Kraft zu schöpfen, sozusagen eine Tankstelle für den weiteren Weg“, sagt Prof. Bernhard Meyer. Nachdem in Griesheim das Konzept der bespielbaren Stadt umgesetzt wurde, rückten die Fußgänger in den Mittelpunkt. Diejenigen, die aufgrund von Krankheit, Behinderung oder Alter lange Wege nicht bewältigen können oder denen das Warten schwerfällt. Es konnte die Erfahrung gemacht werden, dass Spielobjekte im Straßenraum zum Ausruhen genutzt wurden.
Für Seniorinnen und Senioren, die unterwegs sind, gibt es zwei verschiedene Bedürfnisse: Sich treffen und am öffentlichen Leben teilnehmen. Kurz ausruhen und neue Kraft sammeln für den weiteren Weg. Für Ersteres sind Orte geeignet, die einerseits geschützt sind und andererseits interessante Ausblicke bieten. Hier sollten Bänke zum Verweilen stehen. Für Letzteres braucht man eher eine Gelegenheit zum Kurzzeitsitzen. Dazu können teilweise auch Spielobjekte der Kinder genutzt werden. Aber es muss auch Ergänzungen geben.
160 besitzbare Punkte hat man in Griesheim ausfindig gemacht. Die Ergebnisse werden mit vorhandenen Bank-Standorten, mit Spielobjekten abgeglichen. Weiterhin werden die Straßen und Plätze hinsichtlich der Umgestaltungsmöglichkeiten untersucht. Schließlich erfolgt eine Produktentwicklung für das Kurzzeitsitzen, da im Markt keine Vorbilder vorhanden sind. Der öffentliche Raum wird ergänzend und umgestaltend möbliert. Anschließend erfolgt eine Evaluation durch Griesheimer Bürgerinnen und Bürger.
Das Ergebnis ist, dass Menschen, die in Griesheim zu Fuß unterwegs sind, einen Straßenraum vorfinden, der ihren Bedürfnissen entspricht. Für Kinder hat sich das Anregungspotential erhöht, für ältere und behinderte Menschen wird die Sicherheit gesteigert, den Weg bewältigen zu können. Bei größeren Entfernungen steht mit dem Anruf-Sammel-Taxi (AST) ein flexibles Beförderungssystem zur Verfügung. In fußläufigen Entfernungen bieten Objekte zum Kurzzeitsitzen die Sicherheit, sich bei nachlassenden Kräften kurz zu erholen. Passend platzierte Bänke bieten sich als Treffpunkte an. „Meiner Meinung nach funktioniert das „Seniorenspiel“ in unserer Kultur nicht“, ist Prof. Meyer überzeugt. „Wir brauchen „Parkraum“ für Menschen. Ein Signal im öffentlichen Raum, dass man erwünscht ist.“
Etat
Expenditure/ Spending Ausgaben:
Sozialwissenschaftliche Begleitung (Seniorenbeteiligung) 03.000€
Anschaffung von Objekten 30.000€
Installation von Objekten 10.000€
Kartierung und Prüfung 02.000€
Erstellung der Dokumentation 02.000€
Gestaltungs- und Druckkosten 04.000€ 51.000€
Income/ Revenue Einnahmen:
Evangelische Fachhochschule 02.000€
Stadt Griesheim 15.000€
Flughafenstiftung 34.000€ 51.000€
Die Stadt Griesheim ist spielerisch auf dem Weg, auch zur ersten besitzbaren Stadt in Deutschland zu werden.
TM
Fotos: Stadt Griesheim
Literaturtipp:
Bernhard Meyer: Die bespielbare Stadt. Die Rückeroberung des öffentlichen Raumes. Shaker Verlag GmbH, ISBN 978-3-8322-8426-8
Norbert Leber, Bürgermeister der Stadt Griesheim:
„Bei der Umsetzung der "Bespielbaren Stadt" war die ganz wesentliche Voraussetzung (wie für die gesamte Entwicklung), dass die Verwaltungsleitung (vom Bürgermeister über Ordnungs¬amtsleiter, Sozialamtsleiter und Leiter des Bauhofs) von den Maßnahmen überzeugt war, um diese auch konsequent und syste¬matisch umzusetzen. Die Stadtverordneten waren zum Teil durchaus skeptisch und versuchten auch, Einfluss z.B. auf die Standorte der einzelnen Spielgeräte etc. zu nehmen. Dies hätte letztlich nicht zu einem flächendeckenden Erfolg geführt, da so ständige politische Diskussionen über die Standorte der Spielgeräte geführt worden wären. Vor diesem Hintergrund sind wir so vorgegangen, dass das Ordnungsamt die Verkehrssicher¬heit an den jeweiligen Standorten im Vorfeld untersucht und geprüft hat und dann die von den Kindern vorgeschlagenen Standorte für Spielgeräte (über 100 im gesamten Stadtgebiet) als gut oder als nicht geeignet festgelegt hat. Danach er¬folgte in einem relativ schnellen Vorgehen seitens des städti¬schen Bauhofs die Installation der Geräte. Auch hier stießen wir auf Widerstände aus der Bevölkerung, die zum Teil kein Verständnis dafür hatte, dass jetzt plötzlich einzelne Spiel¬geräte, Sitzmöglichkeiten etc. auf ihrem Bereich des Gehweges oder in der Nähe entstanden. Nach einiger Zeit legte sich je¬doch diese Skepsis und es wurde in Griesheim ein gewisser Stolz deutlich, dass wir die erste bespielbare Stadt Deutschlands sind.
Die handelnden Personen der Kommune waren von Anfang an vom Projekt überzeugt und haben es deshalb gezielt, schnell und flächendeckend in die Tat umgesetzt. Sie haben das Projekt auch gegen aufkommende Widerstände rasch umgesetzt, was meines Erachtens die Voraussetzung für eine Realisierung des gesamten Projektes war. Ansonsten wäre das Projekt sicher in Einzeldebatten über Standorte und Sinn und Zweck einzelner Spielgeräte im Aufbau stecken geblieben. Es erfordert also ei¬nen überzeugten und überzeugenden Bürgermeister, eine ebensol¬che Verwaltung und einen guten Bauhof, wie wir ihn in Griesheim haben.
Die finanziellen Mittel - insgesamt 104.000 € - wurden überwiegend auf dem Wege des Sponsorings zur Verfügung gestellt. Einen Großteil des Zuschusses leistete dabei die Flughafenstiftung Rhein-Main, ferner die HSE-Stiftung sowie die Sparkasse Darmstadt. Die Stadt Griesheim ihrerseits finan¬zierte 14.000 €, während die evangelische Fachhochschule Darmstadt durch Personaleinsatz und Unterstützung circa 2.000 € dazu beitrug. Somit blieb das Projekt in einem für die Stadt überschaubaren Rahmen, wurde überwiegend durch Sponsoring, zum Teil auch durch Entgegenkommen bei der Preisgestaltung durch die herstellenden Firmen, finanziert und ist ein heute abge¬schlossenes Projekt.
Abschließend nochmals den deutlichen Hinweis: ohne eine Verwaltungsspitze, die sich gegen Widerstände durchsetzend für ein solches Projekt einsetzt und es möglichst rasch in die Tat umsetzt, ohne dabei während der Ausführung ins Stocken zu ge¬raten, ist ein solches Projekt meines Erachtens nicht durchführbar.“