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Internationales Fachmagazin für Spiel-, Sport- und Freizeitanlagen

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17.10.2012 - Ausgabe: 5/2012

„Sich lustvoll, freiwillig schinden“

Von Dr. Dieter Breithecker, Bundesarbeitsgemeinschaft für haltungs- und Bewegungsförderung e. V.

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Dieses „Naturgesetz“ erst ermöglicht, dass komplexe, das heißt in Wechselwirkung stehende körperliche, geistige und psychisch-emotionale Entwicklungsprozesse positiv unterstützt werden.

Wie sich Kinder entwickeln, hat sich in der Menschheitsgeschichte von Generation zu Generation eingeschliffen. Seit Millionen von Jahren ist der Mensch u. a. auf Gehen, Klettern sowie auf diverse Wechselhaltungen wie Liegen oder Kauern auf dem Boden „trainiert“. Dieses Evolutionsprinzip gilt noch heute. Aus diesem Grund besitzen Kinder einen naturgemäßen Drang, sich „lustvoll, freiwillig zu schinden“. Sie können ihre komplexen Potentiale nur entfalten, wenn die Umwelt sie vor ein herausforderndes und vielseitiges „Probleme bewältigen“ stellt.


Abb. 1: Da viele Naturräume häufig nicht mehr erreichbar sind, müssen besonders entwicklungsfördernde Bewegungsangebote „Naturgesetze“ abfordern („Kletterstruktur“, Richter Spielgeräte GmbH)


In den letzten Jahrzehnten ist es für Kinder nicht mehr so einfach, den von der Natur angelegten spontanen Bewegungsdrang auszuleben. Eine restriktive Veränderung ihrer sozialen und räumlichen Lebenswelt einerseits; aber auch unreflektierte Übersicherungsmaßnahmen, Normen sowie überängstliche Erziehungsverantwortliche be- und verhindern häufig ein vielfältiges und die Grenzen auslotendes Bewegungsverhalten der Kinder. Aus der Präventionswissenschaft aber wissen wir, dass variable und komplexe Verhaltensmuster - so, wie sie bei Kindern gegeben sind, wenn sie sich spontan bewegen dürfen und nicht nur von Erwachsenen bewegt werden - für gesunde körperliche und geistige Wechselwirkungsfunktionen und damit Entwicklungsprozesse stehen. Gerade Kinder in den ersten 12-13 Lebensjahren haben im Zuge ihrer hochsensiblen sensomotorischen sowie hirnphysiologischen Ausdifferenzierungsphase („Neurogenese“, „Synaptogenese“ / Neubildung und Verschaltung von Nervenzellen) einen naturgegebenen Bedarf nach vielseitigen und bewegenden Herausforderungen.
Empirische Studien belegen, dass eine im Verhältnis zur Ausgangssituation körperlich reizreichere Umwelt („enriched environment“) eine interaktive Verflechtung von körperlichen, geistigen und sozialen Entwicklungsprozessen nachhaltig fordert und damit fördert (Ickes et al. 2000). Kinder nehmen ihre Umwelt anders wahr als Erwachsene. Kinder bewegen sich in ihrer eigenen, ganz speziellen Erkundungs- und Erlebniswelt. „Das Kind ist ein spielendes und sich bewegendes Wesen. Alles, was es lernt, tut und begreift, steht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit seiner Fähigkeit, bewegungsmäßig und spielerisch an die Dinge heranzugehen und sich durch Spiel- und Bewegungserlebnisse weiterzuentwickeln“ (Hildebrandt 1995, 75).


Abb. 2: Entwicklung erfolgt im Wesentlichen über die Eigenaktivität des Kindes in Interaktion mit angemessenen Anforderungen („Seilparkour“, Corocord Raumnetz GmbH)


Entwicklung braucht bewegende Herausforderungen

Diese wichtige Erkenntnis sollte sich in „Sinn-vollen“, das bedeutet, sensomotorisch anspruchsvollen Aufforderungsräumen widerspiegeln. Einen Raum, der sich an den Bedürfnissen der Kinder orientiert, der

• das neugiergesteuerte Erkundungs- und Entdeckerverhalten der Kinder anregt,
• vielfältige taktile, vestibuläre und kinästhetische Erfahrungen ermöglicht,
• Risikokompetenz durch eigene Wagniserfahrungen in grenzwertigen Situationen ausbildet,
• das Bedürfnis, selbst zu planen und zu gestalten, durch offene, die Selbsttätigkeit und Kreativität der Kinder ansprechende Bedingungen anregt,
• die motorische Entwicklung durch das Erfahren komplexer Grundtätigkeiten umfassend fördert,
• durch eine Differenzierung der Herausforderungen und die Bereitschaft, überschaubare Risiken einzugehen, den unterschiedlichen Leistungsvoraussetzungen gerecht wird,
• soziales Lernen durch Aufgabenstellungen, die gemeinsames und koordiniertes Handeln und Planen erfordern, anregt.

Ganz „nebenbei“ lernen Kinder ihren Körper zu beherrschen, Fähigkeiten und Fertigkeiten zu erwerben sowie Geschicklichkeit zu entwickeln. Ein über Bewegungskönnen gesteigertes Selbstkonzept wirkt sich darüber hinaus positiv auf den Erwerb grundlegender Kernkompetenzen wie Selbstvertrauen, Selbstbewusstsein, Selbstwertgefühl, Risikoabschätzung und Risikobewertung sowie Selbstsicherungsfähigkeit aus. Kinder brauchen immer wieder das Gefühl, es gerade geschafft und ihre Ängste überwunden zu haben. Langweilige Spielplätze sind nach Auffassung von Ellen Sandseter, Psychologin am norwegischen Queen Maude University College schlecht für Kinder, da sie die emotionale Entwicklung hemmen können. Denn laut Sandseter brauchen Kinder eine aufregende Auseinandersetzung mit Höhe und Geschwindigkeit, um spätere Ängste zu überwinden.


Abb. 3: Wer hoch hinaus brauch Selbstvertrauen, Risikobewertung und muss sich selbst sichern können („Stangengestrüpp“, Richter Spielgeräte GmbH)


Die Angst um unsere Kinder. Übersicherung minimiert Entwicklungschancen

Der Bewegungsalltag sieht trotz all dieser Erkenntnisse nicht selten ernüchternd aus. Es mangelt an kindgerechten „Erkundungsräumen“ die Kindern ermöglichen, ohne Überwachung und Kontrolle, Bewegungsprobleme zu entdecken und an deren Lösung zu wachsen. Es sind meist die Erwachsenen, die das komplette Umfeld der Kinder gestalten und bestimmen. „Mit der Zahl der überbesorgten Eltern steigt auch die Zahl der Kinder, die therapeutische Hilfe benötigen“ (Korczak 2005). Spielfreude und Spielrisiko sind zu häufig „Opfer“ einer durch Normen und analoge Konstrukte langweilig gestalteten Bewegungswelt. Normen sind aber kein ausschließliches Gebot. Sie als Empfehlungen angemessen auszulegen ohne die Sicherheit der Kinder zu gefährden, verlangt aber eigene Sicherheit in der kompetenten Anwendung. Im Rahmen des Normwerkes ist das Spiel und Verletzungsrisiko immer wieder definiert worden, zuletzt in der Präambel der Europäischen Norm (EN) 1176-1 von 2008: „Unter Berücksichtigung der Eigenarten des kindlichen Spiels und der Art, wie Kinder vom Spielen auf dem Spielplatz hinsichtlich ihrer Entwicklung profitieren, müssen Kinder lernen, mit Risiken fertig zu werden, und das kann auch zu Prellungen, Quetschungen und sogar zu gebrochenen Gliedmaßen führen.
Das Ziel dieser Norm ist es zuerst und zuallererst Unfälle zu verhindern, die zu Behinderungen oder Tod führen und in zweiter Linie, schwerwiegende Folgen zu mildern, die durch gelegentliches Unglück verursacht werden, was unausweichlich passieren wird, wenn Kinder darauf aus sind, das Niveau ihrer Leistungsfähigkeit zu erweitern, sei es sozial, geistig oder körperlich“.


Abb.: 4: Den Weg sicher planen, jeder nach seinen Fähigkeiten („Seilparkour“, Corocord Raumnetz GmbH)


Die Risiken des Lebens müssen für Kinder auch in Zeiten der Normen und der oftmals überbesorgten Erziehungsverantwortlichen erlebbar, erlernbar und damit beherrschbar sein. Spiel mit Risiko ist essentiell. Wer sich dennoch unsicher fühlt, sollte sich an professionelle und seriöse Sicherheitsfachkräfte wenden, die den Spielraum hinsichtlich „Risk and Benefit“ bewerten und beraten. Diese einmalige, finanzielle überschaubare Investition ist ein sinnvolles Investment in die Entwicklung der Kinder. Denn es ist ein Risiko ohne Risiko aufzuwachsen.

„Wer Kinder überbehütet raubt ihnen Lebensfreude, Selbstbewusstsein und die Chancen Krisen meistern zu lernen“ (Korczak 2005). Erst durch die Verbote der Erziehungsverantwortlichen werden die Kinder unsicher und ungeschickt und erleiden Unfälle. Eine ständige Reglementierung kann dazu führen, dass sich die Kinder mehr auf Rückmeldungen ihrer Umwelt verlassen, anstatt ihr eigenes Bewertungsideal zu nutzen.


Weitere Informationen:
Dr. Dieter Breithecker
Bundesarbeitsgemeinschaft für haltungs- und Bewegungsförderung e. V.
65185 Wiesbaden
www.haltungbewegung.de
www.besondersentwicklungsfoerdernd.de

 

 

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